Archiv der Kategorie: Bildungserlebnisse

Jeder gute Unterricht sollte für die Schüler ein Bildungserlebnis bereit halten. Der „Mehrwert“ des Unterrichts ist also ein Art von geistig-kultureller Bereicherung der Schüler.

15 Jahre Kompetenzorientierung im Unterricht – kein Grund zum Feiern

Die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts hat dazu geführt, dass das Fachwissen der Schüler abnimmt. Dass Wissen und  Können eine untrennbare Einheit bilden, wurde allzu lange ignoriert.

Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sorgten in den Amtsstuben deutscher Bildungspolitiker für Unruhe.  Die deutschen Schüler waren nämlich in den drei Testfeldern Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften nur im unteren Mittelfeld der teilnehmenden Industrieländer gelandet. Experten machten den primär  auf Wissenserwerb ausgerichteten Unterricht für das Versagen der Schüler verantwortlich. Sie hatten nämlich festgestellt, dass die Aufgaben, die die Schüler bei PISA zu lösen hatten, kompetenzorientiert waren. Also war Reformbedarf angesagt.  2005/2006 führte die Kultusministerkonferenz für die Fächer Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache  bundesweit geltende Mindeststandards ein. Diese Standards gingen auf den Vorschlag des  Frankfurter  Bildungsforschers Eckard Klieme zurück. In Kliemes Expertise aus dem Jahr 2004 tauchen Wissensinhalte und Kompetenzen noch in einem ausgewogenen Verhältnis auf: „Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her.“ In den Kompetenzmodellen, die die Bildungsminister der Länder auf Grundlage der Bildungsstandards entwickelten, drängten sich dann die Kompetenzen so in den Vordergrund, dass der Anschein erweckt wurde, die zu vermittelnden  Inhalte seien künftig sekundär. So hieß es im Berliner Rahmenlehrplan Deutsch für die gymnasiale Oberstufe: „Dabei dienen Inhalte dem Erwerb von Kompetenzen.“ Nach der  Kritik von Deutschlehrern wurde diese anstößige Formulierung abgemildert:  „[Es sollen] nicht nur die Systematik des Faches, sondern vor allem  der Beitrag zum Kompetenzerwerb  berücksichtigt werden.“  Die Formulierung „vor allem“ gibt  der  Kompetenz  immer noch  den Vorrang vor dem  Erwerb von Fachwissen – mit bedenklichen Folgen für den Unterricht.

Die meisten Bildungspläne der Bundesländer  beziehen sich auf die Kompetenz-Definition, die der Psychologe Franz E. Weinert entwickelt hat. Kompetenzen sind  für ihn die „kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen.“  Diese Definition zeigt schon die ganze Problematik.  Denn gymnasiales  Lernen intendiert  nur zu einem Teil die Entwicklung kognitiver „Fähigkeiten“. Es besteht auch  keineswegs nur aus „Problemlösen“ und zielt nicht immer  auf „Anwendung“.  Wichtige Lerninhalte der  Fächer  Deutsch, Musik, Bildende Kunst, Philosophie, Theater und Sport lassen sich mit Kompetenzmustern gar nicht erfassen. Und es sind gerade die  zweckfreien Gegenstände,  die den Schülern ein echtes Bildungserlebnis bescheren.  Als  Wilhelm  von Humboldt das deutsche Gymnasium schuf,  ging sein Bildungsbegriff     vom Primat  des Lerninhalts aus.   Lerngegenstände müssten  „idealisch“ sein, sich also einem vorgestellten kulturellen  Ideal annähern.  Das Verständnis der Welt erschließt sich – so Humboldts Credo – Schülern primär über Wissensinhalte: „Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich macht.“ Von diesem eindeutigen Primat des Inhalts  kann  im heutigen Fachunterricht nicht mehr die Rede sein.

Im Literaturunterricht der Gymnasien hat sich inzwischen die Praxis herausgebildet,  von vornherein auf die Besprechung schwieriger Texte, etwa der Gedichte von Hölderlin, Rilke, Benn, Celan  und Bachmann, zu verzichten. Wegen ihrer schwierigen Erschließbarkeit widerstreben sie den  „schülerzugewandten“ Lehrmethoden und der Kompetenzorientierung Gerade das, was  die Qualität unserer klassischen Texte   ausmacht, ihre poetische Verrätselung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht „moderner“  Prägung. Früher fragte eine Lehrkraft, wenn sie eine Deutsch-Stunde für die 9. Klasse plante: Welcher Text ist für junge Menschen geeignet, die nach geistiger Orientierung und Sinnstiftung  verlangen? Heute lautet die Frage: Welcher Text  eignet sich  besonders gut, um  die Kompetenz „Erzählperspektiven identifizieren“ griffig einüben zu können? Die Lehrkraft wird  eine Kurzgeschichte wählen, in der die allwissende Erzählperspektive in Reinform  vorkommt, aber nicht unbedingt eine Erzählung, die  literarisch besonders wertvoll ist. Wie sich die  Kompetenzorientierung des Unterrichts in der schulischen Praxis auswirkt, konnte ich  in der Referendar-Betreuung  hautnah erleben. Ein junger Kollege  fragte mich, ob ich ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text empfehlen könne. Ich meinte, „Vor dem Gesetz“ oder „Eine kaiserliche Botschaft“  von Franz Kafka seien wertvolle, anspruchsvolle Texte, die bei Schülern gut ankommen und  mit denen man ihr Textverständnis  herausfordern kann. Der Referendar blickte mich verzagt an und meinte, der Fachseminarleiter wolle von ihm die Unterrichtsmethode „Lernen an Stationen“ sehen. Zudem sollten die Schüler die Kompetenz  „textsortenspezifisches Wissen nutzen“  einüben. Darauf sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich nicht an Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof –  ein gehaltvolles Unterrichtsgespräch.  Dieses Beispiel zeigt das ganze Dilemma: Zwei formale Kriterien, Unterrichtsmethode und Kompetenz, bestimmen die Wahl des  Unterrichtgegenstands. Die Qualität des zu lernenden  Stoffes   spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Schulbuchverlage sind natürlich auf den „Kompetenzzug“ aufgesprungen.  In der  Pädagogikabteilung von  Buchhandlungen stößt man zu Hauf auf Titel wie „Methodentraining“, „Lerntraining“, „Abiturtraining“, „Kompetenzen trainieren“. Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist.

Im Fach Geschichte sind die Kompetenzen sehr viel enger mit Stoffinhalten verknüpft als im Literaturunterricht. Kann der Deutschlehrer  einen Text verschmähen, wenn er sich der Einübung einer Kompetenz „widersetzt“, wäre dies in Geschichte nicht möglich, wollte man  den Geschichtsprozess  nicht verfälschen. Die Probleme, die der Kompetenzbegriff dem Fach Geschichte beschert hat, liegen deshalb auf einem anderen Gebiet. Die meisten Lehrpläne benennen  drei grundlegende Kompetenzen der Geschichtsvermittlung: Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz. Da die fachspezifischen Kompetenzen zusätzlich von überfachlichen Schlüsselqualifikationen  überlagert werden, sieht sich die Lehrkraft in der Unterrichtspraxis einer komplexen Palette an formalen Anforderungen gegenüber, hinter der das eigentliche Substrat des Geschichtsunterrichts – die Vermittlung historischen Grundlagenwissens – verschwindet. Der Kernlehrplan Geschichte von Nordrhein-Westfalen  nennt allein für die Doppeljahrgangsstufe 5/6 des Gymnasiums 33 Einzelkompetenzen. In der Fachzeitschrift „Geschichte und Wissenschaft“ (11/12,  2018) berichten  erfahrene Lehrkräfte, dass sich vor allem Lehramtsanwärter durch die geballte Ladung an  Kompetenzen so unter Druck gesetzt fühlen, dass   sie  diese   beflissen   einüben, ohne zuvor  das dafür  nötige fachliche Fundament gelegt zu haben.  „Fertigkeiten“ ohne sachliche Grundlage  laufen jedoch  ins Leere und führen das Kompetenzmodell ad absurdum.

Wenn Schüler  eine „narrative Kompetenz“ ausbilden, also Geschichte(n) erzählen sollen, ist es unabdingbar, dass sie zuvor  die betreffende historische  Epoche geistig durchdrungen haben. Erst dann können sie kompetent „erzählen“. Die meisten Lehrpläne verzichten aber darauf, die historischen Ereignisse, die unbedingt vermittelt werden müssen, klar zu benennen und sie einer  Schlüsselkompetenz  zuzuordnen.  Ein kohärentes Geschichtsbild kann so nicht entstehen. Schädlich ist auch der in vielen Lehrplänen geforderte Gegenwarts- und Lebensweltbezug. Unerfahrene Lehrkräfte neigen dazu, die Stoffinhalte aus vergangener Zeit so aufzubereiten, dass sie für die Bewertung aus heutiger Sicht „passen“. Eine solche Geschichtsbetrachtung leistet der fragwürdigen Tendenz in unserer Gesellschaft Vorschub, historische Persönlichkeiten mit der moralischen Messlatte von heute zu bewerten und bei  Nichtgefallen  den Daumen über sie  zu senken. Auf diese Weise wurden in letzter Zeit  Straßen umbenannt sowie  Schulen und Universitäten ihres Namenspatrons beraubt  (z.B. Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt). Mit historischem Denken hat dies wenig zu tun.  Hätten die Geschichtsmoralisten gelernt, dass man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus der Zeit heraus verstehen kann, wären solche  moralischen  Kurzschlüsse nicht möglich gewesen. Im Geschichtsunterricht habe ich die Erfahrung gemacht, dass es lange dauert, bis die Schüler ein historisches Ereignis so verstanden haben, dass sie sich ein fundiertes Urteil darüber   erlauben können. Schnellschüsse zur Erfüllung der „Urteilskompetenz“ führen immer zu halbgaren  Aussagen. Als Zweitkorrektor habe ich Abiturarbeiten gelesen, in denen die Schüler meinungsstark argumentierten, ohne über ein   hinreichendes  Faktenwissen zu verfügen. Was jedem Lehrer sofort einleuchtet, hat sich hier offenbart: Über einen Sachverhalt kann man nur dann  eine seriöse Meinung formulieren, wenn man ihn geistig durchdrungen hat. Und für diese geistige Aneignung   sind Kenntnisse – durchaus auch konkretes Faktenwissen – unverzichtbar. Auch die vielfach geforderte Vernetzung des Wissens ist nur auf einer soliden Wissensbasis möglich. Man kann nur dann neues Wissen aufnehmen, wenn man es an bekannte Wissensbestände andocken kann.

Das Kompetenz-Konzept der Didaktik verkennt die wichtigste Aufgabe von Bildung und Ausbildung: Wissen zu vermitteln. Über  Wissen zu verfügen,  ist die wichtigste Kompetenz. Nur auf der Grundlage eines profunden Wissens sind  die  geforderten instrumentellen  Fertigkeiten, wie diskutieren, kritisch reflektieren und präsentieren, erst sinnvoll anzuwenden. Viele Lehrkräfte beklagen inzwischen die inhaltliche Verarmung, die mit der Kompetenzorientierung einhergeht.  Auch in der pädagogischen Wissenschaft nimmt die Kritik am Kompetenzbegriff zu. Wissenschaftler kritisieren vor allem den instrumentellen  Charakter der Kompetenzen. Es gehe im Unterricht nicht mehr primär darum, das  zu lernen, was einen Wert in sich trägt, was also für die  geistige Entwicklung Heranwachsender wertvoll und sinnstiftend  ist, sondern nur noch das, woraus  die Schüler einen praktisch-beruflichen Nutzen ziehen können. Dieser utilitaristische Kompetenzbegriff  verhindere – so die Kritiker  – das  tiefgründige Durchdringen des Unterrichtsgegenstands, was immer die Domäne gymnasialen Lernens gewesen sei. Der Züricher Pädagogikwissenschaftler Roland Reichenbach insistiert auf den Primat des Unterrichtstoffes gegenüber den didaktischen Methoden und Kompetenzen: „Eine pädagogische Beziehung definiert sich  primär  über die Inhalte, die man vermittelt. Die Abwertung des Wissens ist ein großer Fehler. Die Kinder machen es uns vor. Sie interessieren sich für Dinosauriere  oder für Flugzeuge. Das sind Stoffe, keine Kompetenzen.“  (Zürich, 2016)

15 Jahre Bildungsstandards und Kompetenzen sollten Anlass sein, das Kompetenzmodell des Unterrichts kritisch zu überprüfen. Lehrkräfte und Wissenschaftler sollten der Bildungspolitik  ihre Erfahrungen  zur Verfügung stellen. Ein Revisionsziel  scheint heute schon unumgänglich  zu sein: Der Wissensvermittlung muss  künftig wieder  Vorrang vor  dem Erwerb von Kompetenzen   eingeräumt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Mangel an Liebe

Adalbert Stifter als Bildungsexperte

Jede Lehrkraft hat schon einmal  ein Kind erlebt, das sich seinen pädagogischen Bemühungen hartnäckig verweigert hat. Solche Kinder zeigen sich  desinteressiert oder  rebellisch, in sich zurückgezogen oder übertrieben extrovertiert. Die Lehrkraft ahnt, dass in  der häuslichen Erziehung etwas passiert sein muss, was das Kind daran  hindert,  sich in die schulische Gemeinschaft einzufügen und die Lernangebote anzunehmen. Da der Schule  in der Regel  Einblicke in die  elterliche Erziehung verwehrt sind, bleibt den Lehrern nichts anderes übrig, als  das an dem Kind Versäumte in einer Art von zweiter Sozialisation nachzuholen. Viele Lehrkräfte tun sich bei dieser Erziehungsaufgabe  schwer, weil sie die Verstocktheit solcher Kinder  nur schwer ertragen können. Manchmal nehmen sie deren  Verweigerungshaltung auch persönlich und werten sie  als Missachtung ihrer engagierten Erziehungsbemühungen. Es gibt auch Lehrkräfte, die solche Kinder mit rabiaten Methoden  traktieren und dadurch  ihre Aufsässigkeit  noch verstärken.

Von dem Dichter Adalbert Stifter,  im Brotberuf Schulrat, gibt es eine Erzählung, die verblüffend hellsichtige und moderne Erziehungsmethoden schildert, die zeigen, wie man mit „aufsässigen“ Schülern umgehen sollte („Der Waldbrunnen“, 1866). Ein älterer Adeliger, Herr von Heilkun, verbringt die Sommerfrische  in Begleitung seiner beiden  Enkelkinder  Franz und Katharina in  einem kleinen abgeschiedenen  Bergdorf. Die Bewohner sind einfache Menschen:  Bauern, Handwerker und Waldarbeiter. Die Zwergschule hat nur einen Lehrer, der damit hadert, dass ihn die Beamten der Schulaufsicht „so lange in diesem unwirtbaren Waldwinkel und bei so rohen Menschen gelassen haben“. Seine Schüler hält er für genauso roh und wild wie ihre Eltern. Der Adelige, der an das Gute im Menschen – auch bei den Kindern der „rohen“ Waldbewohner  – glaubt, fragt den Lehrer: „Könnt Ihr die Kinder dieser Leute nicht verbessern und veredeln?“ – Der Lehrer antwortet: „Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben. Die Kinder lernen Halsstarrigkeit und Bosheit.“ – In der Klasse habe  er  ein „wildes Mädchen“ sitzen, an dem seine Bemühungen gescheitert seien: „Da habe ich sogar ein Mädchen, das aus Rohheit und Bosheit noch kein Wort in der Schule gesprochen hat.“ – Auffällig ist, dass der Lehrer gar nicht versucht, der Verstocktheit des Mädchens – es  heißt Juliana –  auf den Grund zu gehen, sondern sofort zur fatalen  Methode der Etikettierung greift. Er schreibt dem Mädchen, mit dem er noch kein persönliches Wort gewechselt hat,  Charaktereigenschaften wie „Rohheit“ und „Bosheit“ zu. Der Lehrer unterstellt dem Mädchen sogar feindselige Absichten gegenüber der Schule. Es gehe nur „aus Bosheit“ in die Schule, „um dort wild zu  sein und zu trotzen“. Dieses Gespräch weckt den pädagogischen Ehrgeiz des adeligen Herrn. Er glaubt, dass er das  „wilde Mädchen“ genauso erziehen und bilden könne, wie ihm dies bei seinen beiden Enkelkindern, die er selbst erzogen hat,  gelungen ist.  Er erwirkt vom Lehrer die Erlaubnis, einige Unterrichtsstunden geben zu dürfen.

Bei seinen pädagogischen Bemühungen fällt auf, dass er völlig darauf verzichtet, das Mädchen zu stigmatisieren. Er behandelt es wie alle anderen Kinder. Er verzichtet dabei auf jeglichen Zwang:  „Juliana, tue wie du willst.“ Die Schüler üben sich im Schreiben und Lesen. Nach den Übungsstunden sollen sie ihre Künste vor der Klasse zeigen. Wenn das Mädchen sich verweigert, geht der alte Herr ohne Kommentar darüber hinweg. Er bringt  kleine Geschenke mit – Abziehbildchen oder Bilder zum Ausmalen – , die er an die besonders fleißigen  Schüler verteilt. In jeder Stunde lässt er  sich von den Schülern ihre Übungsarbeiten zeigen, nicht aber von dem Mädchen, weil er ja auf seine Freiwilligkeit setzt.  Eines Tages durchbricht Juliana  die selbstgewählte Isolation, stürzt zum Pult und verlangt vom „Lehrer“, dass er auch ihre Leistungen würdigt. Damit  ist das Eis gebrochen und der Ehrgeiz des Mädchens  geweckt. Es verhält sich fortan  wie eine normale Schülerin.

Mit diesem ersten Teilerfolg gibt  sich der  alte Herr nicht zufrieden. Mit seinen beiden Enkelkindern bricht er auf, um das Elternhaus des Mädchens kennen zu lernen. Sie wohnt mit Mutter, Tante und Großmutter in einer kleinen Bauernkate am Waldrand. Der Vater Julianas  ist früh gestorben. Die soziale Lage der kleinen „Weiberwirtschaft“ könnte man als prekär bezeichnen. Das Mädchen hängt mit inniger Liebe an ihrer Großmutter, in deren Zimmer es  auch überwiegend wohnt. Sie schmückt das Zimmer phantasievoll mit Gegenständen aus der Natur, mit denen sie auch die Kleidung der Greisin drapiert. Bei jedem Besuch im Elternhaus des Mädchens bringen  der  alte Herr und seine beiden Enkel kleine Geschenke mit, die dankbar entgegen genommen werden.

Die Erzählung schildert in Zeitraffung, wie die drei Sommerfrischler jeden Sommer aufs Neue  ins Dorf kommen und wie sie immer wieder Kontakt zu Juliana suchen. Juliana und die beiden Enkel Franz und Katharina werden zu immer  engeren Spielkameraden. Auch dem Mann  bringt Juliana eine immer größere Zuneigung entgegen, bis sie ihn schließlich „Großvater“ nennt. Franz und Katharina erschließen  dem Mädchen  die Welt der Bücher und machen sie mit Poesie  bekannt. Eines Tages erleben sie  hinter einem Baum verborgen, wie Juliana auf einem Felsvorsprung im Wald steht und mit klangvoller Stimme Gedichtverse deklamiert:

„Blumen, die der Lenz geboren, / Streu ich dir in deinen Schoß.“

oder:

„Dem Winde, dem Regen, / dem Schnee entgegen. / Immer zu, immer zu…“

Inhaltlich sicher  nur halb verstanden, hat das Mädchen mit dem Instinkt kluger Menschen, denen es an Bildung gebricht, die Magie dieser Verse erkannt und sie sich zu  eigen gemacht. Das pädagogische Prinzip, lieber zu überfordern als zu unterfordern, hat hier seine Wirkung entfaltet.

In der Erzählung geht Juliana, angeleitet und unterstützt von ihrem Mentor und liebevoll begleitet von ihren beiden Freunden ihren Weg.

Was kann man aus der Erzählung Adalbert Stifters für das eigene pädagogische Handwerk lernen?

  • Jedes Kind hat einen guten Kern, der oft nur durch missliche häusliche Bedingungen verschüttet ist.
  • Jede pädagogische Bemühung muss damit beginnen, dass man sich in ein Kind hineinversetzt und versucht, die Beweggründe für sein Verhalten zu verstehen.
  • Kein Kind kommt morgens mit dem Vorsatz in die Schule, den Mathematiklehrer zu ärgern. Fehlverhalten ist situativ bedingt und meistens Ausdruck von seelischen Nöten, die ihre Ursache allzu oft im Elternhaus haben.
  • Zwang und Strafen verschlimmern in der Regel das Fehlverhalten von Kindern. Besser sind konstruktive Angebote, die dem Kind helfen, aus dem Teufelskreis von Fehlverhalten und Bestrafung herauszufinden.
  • Ähnlich wie bei Erwachsenen ist auch bei Kindern geliebt zu werden  der wichtigste Antrieb im Leben. Auch wenn eine Lehrkraft ihren Schülern nicht die Liebe entgegenbringen kann, die Eltern gegenüber ihren Kindern verspüren, sollte doch im  Umgang mit den Schülern die Zuneigung aufscheinen, die notwendig ist, um Schüler  auf  ihrem  Weg ins Leben positiv zu begleiten.

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Inselparadies mit dunkler Vergangenheit

Auf der Insel Reiswerder im Tegeler See versteckten sich 1943 fünf Juden. Nach 18 Monaten wurden sie von der Gestapo entdeckt und in verschiedene  Konzentrationslager verschleppt.

Betritt man nach kurzer Fahrt mit der Fähre das kleine Eiland Reiswerder im Tegeler See, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt: Kleine Lauben, eine Gaststätte namens „Inselbaude“, ein insulares Rathaus versammeln sich  unter dem Kronendach  hoher alter Bäume stattlichen Ausmaßes. Die Uferzonen sind durch dichtes Gestrüpp und grüne  Schilfgürtel  vom bunten Treiben auf der Insel abgetrennt. Auf Reiswerder gibt es seit 1914 den „Verein der Naturfreunde Baumwerder-Reiswerder e.V.“, der den „ökologisch verwalteten ´Inselstaat`“ – so der zweite Vorsitzende des Vereins Lothar Berndorff – organisiert. Auf der Insel können Städter  dem Großstadttrubel  entkommen und  in unberührter Natur Ruhe  und Entspannung  finden. Weiterlesen

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Thomas Mann als Bildungsexperte

Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT am 23. 02. 2019

Der Schöpfer  großartiger Romanfiguren formuliert en passant verblüffende pädagogische Einsichten, die auch heute noch ihre  Gültigkeit besitzen. Etwa jene, dass man Schüler besser über- als unterfordern sollte.

 Jeder Thomas-Mann-Freund kennt das berühmte Kapitel 11 aus seinem Erfolgsroman „Buddenbrooks“ (1901), in dem er das Leiden des kleinen Johann („Hanno“) Buddenbrook an der wilhelminischen Schule erzählt. Der feinsinnige, künstlerisch begabte Knabe durchschaut die Hohlheit des Pauksystems und verachtet die Lehrkräfte, die  ihre Autorität nur mit Hilfe ihres Amtes und der damit verbundenen Strafgewalt aufrecht erhalten können. Weniger bekannt sind die Passagen aus dem Roman „Doktor Faustus“ (1947), die sich mit Pädagogik befassen. Der Komponist Adrian Leverkühn verschreibt sich dem Teufel, der ihm 24 Jahre höchster Produktivität im musikalischen Schaffen verspricht. Als Gegenleistung muss er darauf verzichten, Menschen zu lieben, weil er hinfort  mit Kälte geschlagen sein wird. Weiterlesen

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Leitkultur in der Schule

Veröffentlicht in  DIE WELT vom 19. 12. 2018

Jeden Tag machen sich von der Öffentlichkeit unbemerkt an den Schulen unserer Republik  Lehrkräfte ans Werk, um  ihren Schülern eine Leitkultur zu vermitteln. Sie dient dem friedlichen Zusammenleben im Kosmos Schule, der in unseren  Großstädten von Kindern aus über 50 Nationen „bevölkert“ wird. Sie dient aber auch der Festigung von Werten, ohne die ein zivilisiertes Miteinander in der Gesellschaft nicht möglich wäre. Die Lehrkräfte tun dies, ohne auch nur eine Sekunde lang an die ideologisch aufgeladene Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ zu denken. Das Wort „deutsch“ spielt bei der in der Schule vermittelten  Kultur eine untergeordnete Rolle. Außer in den Fächern Deutsch und Geschichte gehören die  Stoffinhalte der  gymnasialen Fächer zum Weltwissen: die Sprachen, Mathematik, die Naturwissenschaften, Musik und Kunst. Selbst im Fach Geschichte ist die deutsche Nationalgeschichte in die Weltgeschichte  eingebettet. Wenn Lehrkräfte kulturelle Werte vermitteln,  ist ihnen bewusst, dass eine solche Werteerziehung  in erster Linie  der Persönlichkeitsbildung der Schüler dient.  Denn nur starke Persönlichkeiten sind in der Lage, im Strudel des Lebens ihren Mann oder ihre Frau zu stehen. Man denke an  Goethes Lobpreis auf die Persönlichkeit aus seinem Gedichtzyklus „Westöstlicher Diwan“: „Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit.“  Goethe war  der Meinung, dass der  Wesenskern der Persönlichkeit in jedem Menschen schon von klein an  angelegt sei, er müsse  nur durch die helfende und leitende Hand des Pädagogen zum Erblühen gebracht werden. „Werde, der du bist!“ – Dieses Wort von Friedrich Nietzsche wurde zum Leitfaden einer Pädagogik, die die Kinder nicht mehr nach den Regeln der Gesellschaft modeln, sondern ihnen den Weg ins Offene, in eine freie Selbstbestimmung zeigen wollte. Weiterlesen

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Unterforderung ist das Übel der Zeit

Artikel aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 18. 10. 2018

Warum wir einen literarischen Kanon in der Schule brauchen

Als ich 1975 an einem hessischen Gymnasium  zum ersten Mal vor einer  Klasse stand, um die Schüler  in deutscher Literatur zu unterrichten, war ich mit den Folgen der drei Jahre zuvor erlassenen „Hessischen  Rahmenrichtlinien Deutsch“ konfrontiert. Literaturunterricht sollte nicht mehr die Interpretation der „schönen“ klassischen Literatur sein,   sondern der „Umgang mit Texten“. Diesem Textbegriff war  alles eins: ein Gedicht von Rilke, eine Stellenanzeige und  ein Zeitungsartikel. Die  „hohe“ Literatur sollte vom Sockel geholt werden, um die Benachteiligung der  Schüler zu beseitigen, denen es nicht vergönnt ist, im Elternhaus mit Büchern und intellektuellen Gesprächen aufzuwachsen. Statt dem Kind aus der Unterschicht den Umgang mit Literatur wenigstens in der Schule zu ermöglichen, wurde  die Literatur gleich ganz  eliminiert.  Aus der „Ungleichheit“ weniger wurde   Ungleichheit für alle. Welch  fataler Irrtum, der bis heute nachwirkt. Weiterlesen

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Ein neuer Feiertag

Abgedruckt in der WELT vom 6. 6. 2018

Die  Norddeutschen  bekommen schon dieses Jahr  einen neuen Feiertag geschenkt. Die Landtage von Schleswig-Holstein und Hamburg haben  den Reformationstag am 31. Oktober  zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Die Parlamente von Bremen und Niedersachsen werden sich diesem Votum voraussichtlich  anschließen. In Berlin ist noch nicht entschieden, welcher Tag künftig als neuer Feiertag begangen werden soll. In Frage käme der 9. November, der Tag, an dem  in Berlin die Mauer  fiel. In die Freude über dieses historisch einmalige Ereignis („Wahnsinn“) müsste   sich jedoch Nachdenklichkeit und Trauer mischen, weil am 9. November 1938 auch die Reichspogromnacht war, bei der Schlägertrupps der SA Synagogen und jüdische Geschäfte in Brand steckten. Im Gespräch sind auch  der 17. Juni, der an den Volksaufstand in der DDR 1953 erinnert, und  der 8. Mai, der dann als „Tag der Befreiung“ gefeiert würde. Dass die Linkspartei den 8. Mai bevorzugt, bedarf keiner Erklärung. Zu sehr erinnerte der Volksaufstand in der DDR am  17. Juni 1953  an das Versagen des Sozialismus, den Bürgern erträgliche Lebensbedingungen zu bescheren.  Mit dem 8. Mai hingegen könnten sie sich  auf die Seite der siegreichen    Sowjetunion stellen, die  schon 1965  den 9. Mai  zum  öffentlichen  Feiertag  erklärt hat. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller hat seine  persönliche Wahl noch nicht getroffen. Es wäre ihm freilich zuzutrauen, dass er sich um des lieben Friedens mit der Linken  willen  für den 8. Mai entscheidet. Es wäre eine schlechte Wahl. Weiterlesen

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Wir unterfordern die Kinder

 Erschienen in der Zeitung DIE WELT vom 12. Mai 2018

Unser Autor war Lehrer und weiß: Mädchen und Jungen brauchen früh Anreize, um ihr intellektuelles und sinnliches Potenzial zu entfalten. Es sind vor allem Erfahrungen außerhalb des normalen Kita- und Schulprogramms, die sie die Welt entdecken lassen.

Jedes Jahr zur Osterzeit können Musikfreunde  in der  Berliner Philharmonie ein ungewöhnliches Konzert erleben. In den Konzertchor, der die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach darbietet, hat sich eine Schar von Jungen und Mädchen im Alter von 7 bis 15 Jahren eingereiht. Es sind die „Cantores minores“, die kleinen Sänger, ein Kinderchor-Ensemble der Evangelischen Luisenkirche  und der Evangelischen Schule in Berlin-Charlottenburg. Angeleitet von ausgebildeten Sängerinnen entwickeln  die Kinder ihre Stimmen so gut, dass sie schon nach einem Jahr die Choräle der großen Passionen  des Barock-Meisters mitsingen können. Der Dirigent  Gerhard Oppelt, der dieses Chorprojekt 2007 ins Leben gerufen hat, berichtet, dass die Kinder die außergewöhnliche Qualität der Musik Bachs spüren und ganz  von ihr eingenommen sind. Auch  ihre spirituelle Dimension nehmen sie schon wahr. Die Exzellenz der Musik bildet bei den Kindern ein musikalisches  Qualitätsbewusstsein aus, das sie ihr ganzes Leben  begleitet.  Weiterlesen

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Vom Betroffenheitskult zum Bildersturm

Es gehört schon eine gehörige Portion Ignoranz dazu, in dem Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer eine sexistische Botschaft zu entdecken: „….alleen und blumen und frauen und /ein bewunderer“. Wenn man sich nur genügend betroffen fühlt, scheint alles möglich. Subjektive  Betroffenheit ersetzt ästhetischen Sachverstand und historisches Bewusstsein. Ein Gedicht, das  vor 67  Jahren entstanden ist, wird mit der moralischen Messlatte von heute taxiert und für anstößig empfunden. Mit dem Verdikt aus feministischem Munde wird eine ganze Poetik des Begehrens dem  Orkus anheimgegeben. Seit es Liebeslyrik gibt, wird sie bestimmt vom männlichen Blick auf das Objekt der Begierde, die Frau. Und dort, wo es Lyrik von Frauen gibt (ja, es gibt sie auch),  ist es umgekehrt. Else Lasker-Schüler war nicht zimperlich, das Objekt ihrer Begierde poetisch zu umreißen: „An dem seligen Glanz deines Leibes / Zündet mein Herz seine Himmel an“. Am schönsten hat den männlichen  Blick auf die Frau Johann Wolfgang von Goethe in seinen „Römischen Elegien“ gestaltet: „Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?“. Den weiblichen Körper zu erkunden, war dem großen Erotiker auch ein Bildungserlebnis. Den lüsternen Blick, den die Berliner Studentinnen fälschlich in das harmlose Gedicht der „Konkreten Poesie“ hineinlesen, könnte man eher beim Erkunder römischer Kunstschätze und Frauen – Goethe –  entdecken: „Folgte Begierde dem Blick, folgte Genuss der Begier“. Weiterlesen

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Leitkultur -pädagogisch

Jeden Tag machen sich von der Öffentlichkeit unbemerkt an den Schulen unserer Republik  Lehrkräfte ans Werk, um bei ihren Schülern eine Leitkultur einzuüben. Sie dient dem friedlichen Zusammenleben im Kosmos Schule, der in unseren  Großstädten von Kindern aus über 100 Nationen „bevölkert“ wird. Sie dient auch der Festigung der Werte, ohne die ein zivilisiertes Miteinander in der Gesellschaft nicht möglich wäre. Die Lehrkräfte tun dies, ohne auch nur eine Sekunde lang an die ideologisch aufgeladene Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ zu denken. Sie tun dies aus reiner Selbstverständlichkeit und weil eine Werteerziehung  der Persönlichkeitsbildung der Schüler dient. Im folgenden Glossar findet man die Werte, die mir in meiner Arbeit als Lehrer besonders wichtig waren. Sie reflektieren natürlich meine Unterrichtsfächer Deutsch, Geschichte und Politik. Aber auch meine Liebe zur Musik. Lehrkräfte anderer Fachrichtungen (Naturwissenschaften, Sprachen, Künste) mögen andere Vorlieben haben. Das zivilisatorische Wertefundament bleibt  jedoch stets das gleiche. Weiterlesen

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