Die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts hat dazu geführt, dass das Fachwissen der Schüler abnimmt. Dass Wissen und Können eine untrennbare Einheit bilden, wurde allzu lange ignoriert.
Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sorgten in den Amtsstuben deutscher Bildungspolitiker für Unruhe. Die deutschen Schüler waren nämlich in den drei Testfeldern Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften nur im unteren Mittelfeld der teilnehmenden Industrieländer gelandet. Experten machten den primär auf Wissenserwerb ausgerichteten Unterricht für das Versagen der Schüler verantwortlich. Sie hatten nämlich festgestellt, dass die Aufgaben, die die Schüler bei PISA zu lösen hatten, kompetenzorientiert waren. Also war Reformbedarf angesagt. 2005/2006 führte die Kultusministerkonferenz für die Fächer Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache bundesweit geltende Mindeststandards ein. Diese Standards gingen auf den Vorschlag des Frankfurter Bildungsforschers Eckard Klieme zurück. In Kliemes Expertise aus dem Jahr 2004 tauchen Wissensinhalte und Kompetenzen noch in einem ausgewogenen Verhältnis auf: „Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her.“ In den Kompetenzmodellen, die die Bildungsminister der Länder auf Grundlage der Bildungsstandards entwickelten, drängten sich dann die Kompetenzen so in den Vordergrund, dass der Anschein erweckt wurde, die zu vermittelnden Inhalte seien künftig sekundär. So hieß es im Berliner Rahmenlehrplan Deutsch für die gymnasiale Oberstufe: „Dabei dienen Inhalte dem Erwerb von Kompetenzen.“ Nach der Kritik von Deutschlehrern wurde diese anstößige Formulierung abgemildert: „[Es sollen] nicht nur die Systematik des Faches, sondern vor allem der Beitrag zum Kompetenzerwerb berücksichtigt werden.“ Die Formulierung „vor allem“ gibt der Kompetenz immer noch den Vorrang vor dem Erwerb von Fachwissen – mit bedenklichen Folgen für den Unterricht.
Die meisten Bildungspläne der Bundesländer beziehen sich auf die Kompetenz-Definition, die der Psychologe Franz E. Weinert entwickelt hat. Kompetenzen sind für ihn die „kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen.“ Diese Definition zeigt schon die ganze Problematik. Denn gymnasiales Lernen intendiert nur zu einem Teil die Entwicklung kognitiver „Fähigkeiten“. Es besteht auch keineswegs nur aus „Problemlösen“ und zielt nicht immer auf „Anwendung“. Wichtige Lerninhalte der Fächer Deutsch, Musik, Bildende Kunst, Philosophie, Theater und Sport lassen sich mit Kompetenzmustern gar nicht erfassen. Und es sind gerade die zweckfreien Gegenstände, die den Schülern ein echtes Bildungserlebnis bescheren. Als Wilhelm von Humboldt das deutsche Gymnasium schuf, ging sein Bildungsbegriff vom Primat des Lerninhalts aus. Lerngegenstände müssten „idealisch“ sein, sich also einem vorgestellten kulturellen Ideal annähern. Das Verständnis der Welt erschließt sich – so Humboldts Credo – Schülern primär über Wissensinhalte: „Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich macht.“ Von diesem eindeutigen Primat des Inhalts kann im heutigen Fachunterricht nicht mehr die Rede sein.
Im Literaturunterricht der Gymnasien hat sich inzwischen die Praxis herausgebildet, von vornherein auf die Besprechung schwieriger Texte, etwa der Gedichte von Hölderlin, Rilke, Benn, Celan und Bachmann, zu verzichten. Wegen ihrer schwierigen Erschließbarkeit widerstreben sie den „schülerzugewandten“ Lehrmethoden und der Kompetenzorientierung Gerade das, was die Qualität unserer klassischen Texte ausmacht, ihre poetische Verrätselung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht „moderner“ Prägung. Früher fragte eine Lehrkraft, wenn sie eine Deutsch-Stunde für die 9. Klasse plante: Welcher Text ist für junge Menschen geeignet, die nach geistiger Orientierung und Sinnstiftung verlangen? Heute lautet die Frage: Welcher Text eignet sich besonders gut, um die Kompetenz „Erzählperspektiven identifizieren“ griffig einüben zu können? Die Lehrkraft wird eine Kurzgeschichte wählen, in der die allwissende Erzählperspektive in Reinform vorkommt, aber nicht unbedingt eine Erzählung, die literarisch besonders wertvoll ist. Wie sich die Kompetenzorientierung des Unterrichts in der schulischen Praxis auswirkt, konnte ich in der Referendar-Betreuung hautnah erleben. Ein junger Kollege fragte mich, ob ich ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text empfehlen könne. Ich meinte, „Vor dem Gesetz“ oder „Eine kaiserliche Botschaft“ von Franz Kafka seien wertvolle, anspruchsvolle Texte, die bei Schülern gut ankommen und mit denen man ihr Textverständnis herausfordern kann. Der Referendar blickte mich verzagt an und meinte, der Fachseminarleiter wolle von ihm die Unterrichtsmethode „Lernen an Stationen“ sehen. Zudem sollten die Schüler die Kompetenz „textsortenspezifisches Wissen nutzen“ einüben. Darauf sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich nicht an Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof – ein gehaltvolles Unterrichtsgespräch. Dieses Beispiel zeigt das ganze Dilemma: Zwei formale Kriterien, Unterrichtsmethode und Kompetenz, bestimmen die Wahl des Unterrichtgegenstands. Die Qualität des zu lernenden Stoffes spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Schulbuchverlage sind natürlich auf den „Kompetenzzug“ aufgesprungen. In der Pädagogikabteilung von Buchhandlungen stößt man zu Hauf auf Titel wie „Methodentraining“, „Lerntraining“, „Abiturtraining“, „Kompetenzen trainieren“. Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist.
Im Fach Geschichte sind die Kompetenzen sehr viel enger mit Stoffinhalten verknüpft als im Literaturunterricht. Kann der Deutschlehrer einen Text verschmähen, wenn er sich der Einübung einer Kompetenz „widersetzt“, wäre dies in Geschichte nicht möglich, wollte man den Geschichtsprozess nicht verfälschen. Die Probleme, die der Kompetenzbegriff dem Fach Geschichte beschert hat, liegen deshalb auf einem anderen Gebiet. Die meisten Lehrpläne benennen drei grundlegende Kompetenzen der Geschichtsvermittlung: Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz. Da die fachspezifischen Kompetenzen zusätzlich von überfachlichen Schlüsselqualifikationen überlagert werden, sieht sich die Lehrkraft in der Unterrichtspraxis einer komplexen Palette an formalen Anforderungen gegenüber, hinter der das eigentliche Substrat des Geschichtsunterrichts – die Vermittlung historischen Grundlagenwissens – verschwindet. Der Kernlehrplan Geschichte von Nordrhein-Westfalen nennt allein für die Doppeljahrgangsstufe 5/6 des Gymnasiums 33 Einzelkompetenzen. In der Fachzeitschrift „Geschichte und Wissenschaft“ (11/12, 2018) berichten erfahrene Lehrkräfte, dass sich vor allem Lehramtsanwärter durch die geballte Ladung an Kompetenzen so unter Druck gesetzt fühlen, dass sie diese beflissen einüben, ohne zuvor das dafür nötige fachliche Fundament gelegt zu haben. „Fertigkeiten“ ohne sachliche Grundlage laufen jedoch ins Leere und führen das Kompetenzmodell ad absurdum.
Wenn Schüler eine „narrative Kompetenz“ ausbilden, also Geschichte(n) erzählen sollen, ist es unabdingbar, dass sie zuvor die betreffende historische Epoche geistig durchdrungen haben. Erst dann können sie kompetent „erzählen“. Die meisten Lehrpläne verzichten aber darauf, die historischen Ereignisse, die unbedingt vermittelt werden müssen, klar zu benennen und sie einer Schlüsselkompetenz zuzuordnen. Ein kohärentes Geschichtsbild kann so nicht entstehen. Schädlich ist auch der in vielen Lehrplänen geforderte Gegenwarts- und Lebensweltbezug. Unerfahrene Lehrkräfte neigen dazu, die Stoffinhalte aus vergangener Zeit so aufzubereiten, dass sie für die Bewertung aus heutiger Sicht „passen“. Eine solche Geschichtsbetrachtung leistet der fragwürdigen Tendenz in unserer Gesellschaft Vorschub, historische Persönlichkeiten mit der moralischen Messlatte von heute zu bewerten und bei Nichtgefallen den Daumen über sie zu senken. Auf diese Weise wurden in letzter Zeit Straßen umbenannt sowie Schulen und Universitäten ihres Namenspatrons beraubt (z.B. Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt). Mit historischem Denken hat dies wenig zu tun. Hätten die Geschichtsmoralisten gelernt, dass man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus der Zeit heraus verstehen kann, wären solche moralischen Kurzschlüsse nicht möglich gewesen. Im Geschichtsunterricht habe ich die Erfahrung gemacht, dass es lange dauert, bis die Schüler ein historisches Ereignis so verstanden haben, dass sie sich ein fundiertes Urteil darüber erlauben können. Schnellschüsse zur Erfüllung der „Urteilskompetenz“ führen immer zu halbgaren Aussagen. Als Zweitkorrektor habe ich Abiturarbeiten gelesen, in denen die Schüler meinungsstark argumentierten, ohne über ein hinreichendes Faktenwissen zu verfügen. Was jedem Lehrer sofort einleuchtet, hat sich hier offenbart: Über einen Sachverhalt kann man nur dann eine seriöse Meinung formulieren, wenn man ihn geistig durchdrungen hat. Und für diese geistige Aneignung sind Kenntnisse – durchaus auch konkretes Faktenwissen – unverzichtbar. Auch die vielfach geforderte Vernetzung des Wissens ist nur auf einer soliden Wissensbasis möglich. Man kann nur dann neues Wissen aufnehmen, wenn man es an bekannte Wissensbestände andocken kann.
Das Kompetenz-Konzept der Didaktik verkennt die wichtigste Aufgabe von Bildung und Ausbildung: Wissen zu vermitteln. Über Wissen zu verfügen, ist die wichtigste Kompetenz. Nur auf der Grundlage eines profunden Wissens sind die geforderten instrumentellen Fertigkeiten, wie diskutieren, kritisch reflektieren und präsentieren, erst sinnvoll anzuwenden. Viele Lehrkräfte beklagen inzwischen die inhaltliche Verarmung, die mit der Kompetenzorientierung einhergeht. Auch in der pädagogischen Wissenschaft nimmt die Kritik am Kompetenzbegriff zu. Wissenschaftler kritisieren vor allem den instrumentellen Charakter der Kompetenzen. Es gehe im Unterricht nicht mehr primär darum, das zu lernen, was einen Wert in sich trägt, was also für die geistige Entwicklung Heranwachsender wertvoll und sinnstiftend ist, sondern nur noch das, woraus die Schüler einen praktisch-beruflichen Nutzen ziehen können. Dieser utilitaristische Kompetenzbegriff verhindere – so die Kritiker – das tiefgründige Durchdringen des Unterrichtsgegenstands, was immer die Domäne gymnasialen Lernens gewesen sei. Der Züricher Pädagogikwissenschaftler Roland Reichenbach insistiert auf den Primat des Unterrichtstoffes gegenüber den didaktischen Methoden und Kompetenzen: „Eine pädagogische Beziehung definiert sich primär über die Inhalte, die man vermittelt. Die Abwertung des Wissens ist ein großer Fehler. Die Kinder machen es uns vor. Sie interessieren sich für Dinosauriere oder für Flugzeuge. Das sind Stoffe, keine Kompetenzen.“ (Zürich, 2016)
15 Jahre Bildungsstandards und Kompetenzen sollten Anlass sein, das Kompetenzmodell des Unterrichts kritisch zu überprüfen. Lehrkräfte und Wissenschaftler sollten der Bildungspolitik ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen. Ein Revisionsziel scheint heute schon unumgänglich zu sein: Der Wissensvermittlung muss künftig wieder Vorrang vor dem Erwerb von Kompetenzen eingeräumt werden.