Das neue Grundsatzprogramm der Grünen versteht Bildungspolitik primär als Sozialpolitik. Den Anforderungen unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft wird es nicht gerecht.
Wörter sind verräterisch, weil sie die Geisteshaltung der Autoren enthüllen. Im Bildungskapitel des neuen Grundsatzprogramms der Grünen findet sich zehn Mal das Wort „sozial“, ergänzt durch „ungleich“, „benachteiligt“ und „prekär“. Man glaubt, ein Dokument des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zu lesen. Folgerichtig wird dann auch – in einem Bildungsprogramm! – eine „höhere Besteuerung von Vermögen und Erbschaften“ gefordert. Die Grünen versuchen gar nicht zu verbergen, was sie in der Bildungspolitik antreibt. Sie schreiben: „Bildungspolitik und Sozialpolitik gehören zusammen“. Die sozialpolitische Dominanz sieht man auch daran, dass es im Bildungskapitel ständig um Finanzen geht. Es trägt die Überschrift „In Bildung investieren“, wo man doch eigentlich erwartet hätte: Die beste Bildung für unsere Kinder! Der innerdeutsche Leistungsvergleich zeigt deutlich, dass höhere Bildungsausgaben keineswegs bessere Schulleistungen verbürgen. Das Siegerland Sachsen gibt im Jahr pro Schüler 7.400 Euro aus; das Schlusslicht Berlin 9.700 Euro. Nicht Geld entscheidet über Bildungserfolge, sondern das pädagogische Konzept und seine praktische Umsetzung.
Vom Schulprogramm einer Partei erwartet man, dass es auf die evidenten Schwächen unseres Schulsystems Bezug nimmt und stimmige Lösungen zu ihrer Behebung anbietet. Ein ins Auge springender Mangel ist die hohe Quote an Schülern, die jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen. Laut „Bildungsmonitor“ des Instituts der Deutschen Wirtschaft von 2020 ist die Quote der Schulversager in Deutschland seit 2013 von 5,2 Prozent auf 6,8 Prozent gestiegen. Jedes Jahr werden 54.000 Schüler – das entspricht der Einwohnerschaft von Wetzlar – in eine ungewisse Zukunft entlassen. Wenn sie einen Lehrberuf beginnen, scheitern sie häufig an den Ansprüchen der Berufsschule. Oft landen sie in Billigjobs, im Hartz IV-System, nicht wenige auch in der Delinquenz. Was sagt das grüne Schulprogramm zu diesem alarmierenden Befund? Es fordert lapidar: „Kein Bildungsschritt soll ohne Abschluss bleiben.“ – Nach pädagogischen Rezepten, wie das gelingen kann, sucht man vergebens.
Die Schülerschaft insgesamt ist in ihren Leistungen zurückgefallen. Lagen deutsche Schüler 2015 beim PISA-Test in Mathematik noch 16 Punkte über dem OECD-Durchschnitt, sind es 2019 nur noch 11 Punkte. Dieser Trend nach unten wird durch die Zahlen des IQB-Bildungstrends 2018 betätigt. Demnach sind die Leistungen von Neuntklässlern in den Fächern Mathematik und in den MINT-Fächern Biologie, Physik und Chemie im Vergleich zu 2012 signifikant schlechter geworden. Alarmierend ist die Zahl der Schüler, die in einigen Bundesländern unter den Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss bleiben. In Schleswig-Holstein sind es 28,5 Prozent, in Hamburg 28,8, im Saarland 31,2, in Berlin 33,9 und – absoluter Negativrekord – in Bremen 40,6 Prozent. Nur Sachsen und Bayern schaffen es durchgängig, bei ihren Schülern die Regel- und Mindeststandards zu sichern.
Wenn Schüler im Unterricht versagen, ist das immer ein Zeichen dafür, dass sie die Lehrkraft mit ihren didaktischen Angeboten nicht erreicht. An unseren Schulen werden heute viele „moderne“ Lernmethoden eingesetzt, denen offensichtlich die „kognitive Aktivierung“ (Bildungsforscher Olaf Köller) der Schüler nicht optimal gelingt. Die Schüler sind zwar im Klassenzimmer aktiv, greifen sich am „Lernbüffet“ Material ab und kommunizieren mit ihren Klassenkameraden im „Karussell-Gespräch“. Was aber dabei an Lernfortschritt und Wissenszuwachs herauskommt, ist in den meisten Fällen dürftig. Nur die leistungsstarken Schüler können mit „offenen“ Unterrichtsformen gewinnbringend umgehen. Der Lüneburger Erziehungswissenschaftler Martin Wellenreuther plädiert deshalb dafür, in stark heterogenen Lerngruppen das „entdeckende Lernen“ zugunsten der „direkten Instruktion“ der Lehrkraft und des von ihr gelenkten Unterrichtsgesprächs zu reduzieren. Er verweist dabei auf Erkenntnisse der Kognitionsforschung. Demnach erzeugt der offene Unterricht im Gehirn nicht die kognitiven Schemata, an die die Schüler neu erworbenes Wissen andocken können. Da in den Bundesländern mit schlechten Schülerleistungen überwiegend in integrativen Schulformen gelernt wird, deren Klassen eine starke Heterogenität aufweisen, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die dort praktizierten Varianten der Binnendifferenzierung einem effektiven Lernfortschritt im Wege stehen. Was sagt das grüne Schulprogramm zu dieser Problematik? Auf fünf Programmseiten findet sich zum Unterricht nur ein lapidarer Satz: Der „Unterricht [ist] so [zu] gestalten, dass er den natürlichen Wissensdurst, die Neugier und die Spielfreude junger Menschen fördert.“ Ob das die Botschaft ist, auf die 800.000 Lehrer in Deutschland gewartet haben?
Wenn ein Schulkonzept der „sozialen Gerechtigkeit“ verpflichtet ist, stehen die Verantwortlichen immer in der Versuchung, bei der Vergabe von Schulabschlüssen großzügig zu verfahren. In Berlin ist an den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen die Zahl der Schüler deutlich gestiegen, die den Übergang auf die gymnasiale Oberstufe schaffen. Dabei weisen sie, wie Olaf Köller in einem Interview im „Tagesspiegel“ enthüllte, ein niedrigeres Leistungsniveau auf als die vorigen Jahrgänge. Die Berliner Abiturienten erzielten im Corona-Abitur mit 2,3 einen besseren Notendurchschnitt als die Prüflinge des Vorjahrs, obwohl vor der Prüfung der Präsenzunterricht ausgefallen war. Auch die Quote der Abiturienten mit der Idealnote 1,0 ist binnen Jahresfrist von 2,1 auf 2,5 Prozent gestiegen. Wunderbare Intelligenzvermehrung in Corona-Zeiten? Es liegt nahe, dass in einem schulischen Klima, in dem ständig das „Soziale“ eingefordert wird, bei Leistungsschwächen der Schüler großzügig verfahren wird. Man tut es ja für einen guten Zweck. Vor diesem Hintergrund versteht man die hohe Zahl an Studienabbrechern, die seit Jahren ca. 30 Prozent beträgt. Wie das Bundesbildungsministerium ermittelt hat, liegen die wichtigsten Ursachen in zu hohen Leistungsanforderungen (30 Prozent) und mangelnder wissenschaftlicher Motivation (17 Prozent). Ist es nicht die wichtigste Aufgabe des Gymnasiums, seine Absolventen auf die Anforderungen des Studiums vorzubereiten?
Insgesamt liest sich das grüne Schulprogramm wie ein provinzielles Kiez-Manifest. Die Wissenskonkurrenz, in der unser Land und die EU in der Welt stehen, wird völlig ausgeblendet. Die PISA-Studie von 2019 hat gezeigt, dass sich unter den zehn besten Ländern sieben aus Asien befinden. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Innovationsstandort Deutschland verliert unser Land bei den wichtigen Zukunftstechnologien zunehmend an Bedeutung. Gehörte Deutschland 2010 noch in 47 dieser 58 Technologien zu den drei Nationen mit den meisten Weltklassepatenten, so hat sich dieser Anteil 2019 auf 22 Technologien mehr als halbiert. Deutschland vernachlässigt offensichtlich die Förderung seiner intellektuellen Talente. Zwei Prozent unserer Schüler gelten als hochbegabt, weil sie einen Intelligenzquotienten von über 130 haben. Bei einer Gesamtschülerzahl von 10,9 Millionen sind das 218.000 Schüler. Dies entspricht der Einwohnerzahl der Stadt Mainz. Diese Schüler im Unterricht nicht ausreichend zu fördern, verstößt nicht nur gegen das Gebot der Humanität. Es ist auch töricht, weil es diese jungen Menschen sind, die später die kreativen Geschäftsmodelle generieren, die unseren Wohlstand mehren. Statt noch mehr Sozialpolitik in der Schule benötigen wir eine intellektuelle Bildungsreform, die die schulischen Leistungen aller Schülergruppen verbessert. Maßstab für Unterrichtsqualität sollten die anspruchsvollen Bildungsstandards sein, die die KMK schon vor Jahren für alle Fächer beschlossen hat. Sie müssen nur überall durchgesetzt werden.
Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte.