Vor den Bundestagswahlen im Herbst 2013 wurde in der Öffentlichkeit diskutiert, ob die CDU ihre konservative Seele verloren habe, weil sie die Wehrpflicht oder die Hauptschule preisgegeben hat. Ist der Vorwurf berechtigt? Konservativ kommt von dem lateinischen Verb „conservare“ (bewahren). Konservatives Denken fragt deshalb stets: Was hat sich so bewährt, dass es bewahrt werden sollte? Bei der Wehrpflicht fällt die Antwort leicht. Wenn sich die Bedrohungslage ändert, muss man die Form der Landesverteidigung anpassen. Nichts anderes ist mit der Gründung einer Berufsarmee geschehen. Dasselbe kann man für die Institution der Ehe durchbuchstabieren. Wenn die Menschen immer häufiger andere Lebensformen bevorzugen, wäre es ein vergeblicher Kampf, das Alte bewahren zu wollen. Konservativem Denken pocht jedoch darauf, dass die Lebenspartner für einander einstehen und dass sie Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. Diese beiden Beispiele lehren: Das Konservative ist eine an Werten orientierte Haltung und kein starres Festhalten an Institutionen.
In der Bildung ist konservatives Denken schwieriger zu definieren. Was sollte in der Schule bewahrt werden? Was hat sich überhaupt bewährt? Früher machte man den Unterschied zwischen fortschrittlich und konservativ an den Schulformen fest, die von den jeweiligen politischen Lagern favorisiert wurden. Rot-Grün kämpfte für die Gemeinschaftschule, CDU und FDP für die Beibehaltung des gegliederten Schulsystems. Diese Unterscheidung ist obsolet geworden, seit die CDU der Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zugestimmt hat.
Eine Bildungspolitik des „guten Bewahrens“ hieße für mich, pädagogische Grundeinsichten nicht deshalb über Bord zu werfen, weil der Zeitgeist gerade wieder eine neue Mode ausgerufen hat. Zum Grundbestand konservativer Bildungspolitik gehört es, pädagogische Vernunft walten zu lassen und auf die Evidenz praktischer Erfahrung zu vertrauen – gegen ideologische Setzungen, die – seien sie auch noch so gut gemeint – allzu oft an der Realität scheitern. Pädagogische Vernunft orientiert sich an der Wirklichkeit, nicht am Wünschenswerten. Dabei sollte man immer im Auge haben, dass der personale Bezug zwischen dem Lehrer und seinen Schülern wichtiger ist als Strukturen, Methoden und technische Geräte.
Eine unverrückbare Tatsache ist, dass sich die Intelligenz der Schüler nicht beliebig vermehren lässt. Die Lernforscherin Elsbeth Stern hat in ihren Veröffentlichungen auf die Unterschiede bei Intelligenz und Lernfähigkeit hingewiesen, die sie für genetisch vorbestimmt hält. Die meisten Menschen seien durchschnittlich intelligent: 70 % der Menschen liegen in der Nähe des Mittelwertes, 15 % sind überdurchschnittlich begabt, genauso viele sind schwächer begabt. Nur 2 % haben einen IQ mit 130 und höher. Sie zählen zu den Hochbegabten.
Akzeptiert man diese realen Befunde, ergeben sich die pädagogischen Konsequenzen zwangsläufig. Den stark divergierenden Begabungen kann man in der Schule offensichtlich nur gerecht werden, wenn man in weitgehend homogenen Lerngruppen unterrichtet. Werden die Lerngruppen zu heterogen, muss der Lernprozess nach Leistungsniveaus differenziert werden, was das Unterrichten unnötig verkompliziert und das gemeinsame Lernen zerstört. Alle seriösen Untersuchungen belegen, dass Heterogenität die Leistungsfähigkeit einer Lerngruppe mindert. Wenn „fortschrittliche“ Pädagogen trotzdem darauf bestehen, die Kinder aller Begabungen gemeinsam zu unterrichten, weil eine Selektion undemokratisch sei, tun sie dies aus sozialen Gründen. Pädagogische Beweggründe spielen dabei keine Rolle oder sie werden nur vorgetäuscht.
Wenn man den Leistungsgedanken in der Schule nicht preisgeben will, muss man – dem Grundsatz der pädagogischen Vernunft verpflichtet – alle nur sozial motivierten Lernformen auf den Prüfstand stellen. Das individuelle Lernen, der offene Unterricht, die Binnendifferenzierung, das freie Lernen mit Lernplan – all diese schönen Formeln gut gemeinter Pädagogik entpuppen sich, wenn sie auf ihre tatsächliche Effektivität getestet werden, als wenig wirksam. Sie vermitteln den Schülern lediglich die Illusion von Selbstermächtigung im Lernprozess. In Wirklichkeit lernen sie weniger, als es in einem vom Lehrer gelenkten Unterricht möglich gewesen wäre. In der Pädagogik hat der Spruch „Der Weg ist das Ziel“, der Konfuzius zugeschrieben wird, wenig Berechtigung. Lernen ist immer zielorientiert. Die Methoden des Lernens und soziale Kompetenz werden auf dem Weg zum Ziel automatisch nebenbei erworben.
Dem Menschenbild der progressiven Pädagogik liegt die Vorstellung zugrunde, alle Schüler, auch die minder begabten, könnten die in ihnen schlummernden Potentiale nur dann voll ausschöpfen, wenn sie sich nur von den Fesseln des „gelenkten“ Unterrichts befreiten. Die „Befreiung“ führt aber häufig zu einer Benachteiligung derer, die der helfenden Hand des Lehrers besonders bedürfen. Der Nestor der Nachkriegs-Didaktik Hermann Giesecke stellte schon in den 1970er Jahren fest, dass „offener Unterricht die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran hindert, ihre Mängel auszugleichen.“ Mit anderen Worten: Das Professorenkind kann mit Selbstlernphasen sehr gut umgehen, während das Kind aus der Unterschicht oder einer Migrantenfamilie auf die Unterstützung des Lehrers angewiesen ist. Das utopische Wunschbild vom sich selbst bildenden Schüler erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Form der Vernachlässigung der Schwachen.
Bewahrendes pädagogisches Denken geht von dem Menschen aus, wie er ist. Jegliches Modeln einer idealen Persönlichkeit, gar eines neuen Menschen ist ihm fremd. Nach meiner Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen wird eine solche Haltung von ihnen gerade deshalb als menschlich wahrgenommen, weil sie die Jugendlichen des Drucks enthebt, ein auf sie projiziertes Idealbild erfüllen zu müssen. Wenn man in diesem Sinne handelt, ist man als Lehrer keinesfalls auf verlorenem Posten. Man hat die Wirklichkeit auf seiner Seite. Und diese ist immer ein starkes Argument, wie man nicht zuletzt an der Euro-Krise hat lernen können. Politik – auch Schulpolitik – gegen die Lebensrealität durchsetzen zu wollen, geht eine Zeit lang gut. Letztlich muss sie scheitern. Eine falsche Schulpolitik wird zuerst von den Eltern wahrgenommen. Sie werden sich auf Dauer nicht damit abfinden, dass die ihnen versprochene Schule zwar soziale Wärme ausstrahlt, dass sie aber ihre Kinder nicht angemessen auf die akademische Laufbahn oder den Beruf vorbereitet. Spätestens dann werden sie fordern, dass die Pädagogik gegenüber der Sozialpolitik wieder in ihr Recht eingesetzt wird.