Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT vom 20. 12. 2019
Eine aktuelle Studie belegt einen Leistungsabfall der höheren Schulen. Was ist da los? Schuld sind auch die Eltern: Sie überschätzen gern die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Kinder. Und Massenbetrieb zu sein, tut der Institution nicht gut.
Am Oktober ist in Berlin der „Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 2018“ vorgestellt worden. Er informiert über die Testergebnisse in Mathematik und den Naturwissenschaften Biologie, Chemie und Physik. Ein Satz der Studie lässt aufhorchen: „An Gymnasien zeigen sich in Deutschland insgesamt in nahezu allen betrachteten Kompetenzbereichen ungünstige Entwicklungen, die innerhalb der Länder unterschiedlich stark ausfallen“. Während die Schülerleistungen in den nichtgymnasialen Schulformen stabil bleiben, gibt es an den Gymnasien einen deutlichen Abwärtstrend. Was ist los an unseren Gymnasien? Eine praktische Erfahrung verdeutlicht das Dilemma. Als ich an einem Gymnasium im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg eine halbjährige Vertretungsstelle antrat, merkte ich schon in den ersten Stunden in einer 7. Klasse, dass ich den Unterricht würde differenzieren müssen. Obwohl alle Schüler des Deutschen mächtig waren, hatten doch die Schüler mit Migrationsgeschichte Schwierigkeiten, die Kurzgeschichten von Schnurre, Kästner und Tucholsky zu verstehen. Wenn in einem Text Vokabeln auftauchen, die über die 3.000 Wörter hinausgehen, die man zur Verständigung im Alltag benötigt, brauchen solche Schüler gezielte Hilfen. Ich gab sie ihnen in einer Extra-Stunde am Nachmittag. In Geschichte stießen die Schüler vor allem beim Verständnis historischer Quellen auf Schwierigkeiten, weil sie mit altertümlichen Wendungen gespickt sind. Auch hier war ein kompensatorischer Förderunterricht unabdingbar. Beide Förderkurse leistete ich freiwillig, weil es dafür am Gymnasium keine Lehrerstunden gibt. Immer noch gehen die Kultusminister davon aus, dass die Schüler, die den Weg aufs Gymnasium geschafft haben, diese anspruchsvolle Schule auch erfolgreich absolvieren werden. Dabei verkennen sie die Wichtigkeit sprachlicher Kompetenz. Da Deutsch die Verkehrssprache in allen Unterrichtsfächern ist, können Schüler ihr intellektuelles Potential nur voll ausreizen, wenn ihre Sprachkompetenz nicht allzu weit hinter dem der muttersprachlichen Schüler zurückbleibt. Um vorhandene Defizite zu beheben, bräuchte man auch am Gymnasium eine flächendeckende Sprachförderung. Weiterlesen →