Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT vom 19. 03. 2019
Die Klage von Lehrern über den Sittenverfall der Jugend ist unberechtigt und unproduktiv. Junge Leute sind seit jeher rebellisch. Einen wesentlichen Unterschied zu früher gibt es dennoch.
Immer wieder kann man in Zeitungen Erfahrungsberichte junger Lehrer lesen, die nach dem Studium hoffnungsfroh in die Schule kamen und dort einen heftigen Praxisschock erlitten. Sie klagen über ungezogene Kinder, die nicht stillsitzen können, die sich mit Stiften bewerfen, die essen, trinken und Musik hören. Die konsternierte Klage eines Neu-Lehrers: „Niemand hat mich vor dieser Hölle gewarnt!“. Erfahrene Lehrer können über solch harsche Urteile nur den Kopf schütteln. Hätte sich der Lehrer mit einigen der störenden Schüler während der Aufsicht auf dem Pausenhof oder in der Cafeteria unterhalten, hätte er sie als freundlich und zugewandt erlebt – als normale Kinder. Es gehört zum kleinen Einmaleins der Jugendpsychologie, dass sich Schüler in der Gruppe anders verhalten als im Einzelgespräch. Die Gruppendynamik, die virile Rivalität der Jungen um die Rangordnung in der Klasse, die Koketterie der Mädchen, sind klassische Such- und Orientierungsverhaltensweisen. Wenn man sie versteht, kann man sie pädagogisch beeinflussen. Ein Lehrer, der anstößiges Verhalten von Schülern persönlich nimmt, hat schon verloren. Kein Schüler steht morgens auf, um in der Schule den Mathelehrer zu ärgern. Das pubertäre Verhalten von Schülern sollte Lehrer vor allem nicht dazu verleiten, die Jugend für schlecht oder gar für bösartig zu halten. Weiterlesen