Das Abitur ist für Schüler der wichtigste Einschnitt in ihrem jungen Leben. Mit diesem Zertifikat verlassen sie den Schutzraum Schule, in dem sie sich 12 Jahre lang relativ behütet vor den gesellschaftlichen Turbulenzen aufgehalten haben. In jeder Abiturrede ist vom „Ernst des Lebens“ die Rede, der jetzt beginne. Da die Anspannung vor dem Abitur besonders groß ist, braucht es bei bestandenem Abitur eine entsprechende Entlastung, ein Ventil. Freche Abi-Streiche, ein aufwändiger Abiturball und private Besäufnisse dienen dazu, die Wehmut beim Abschied von der Schule und den Kameraden zu bewältigen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Abi-Zeitschrift. In ihr präsentiert sich der ganze Jahrgang in lebendig gestalteten Portraits der einzelnen Schüler. Eine Rubrik darf nicht fehlen: „Sprüche aus dem Unterricht“. Da sind dann die frechsten, originellsten Äußerungen der Abiturienten versammelt, an denen man sich ein Leben lang ergötzen kann.
Am Brunsbütteler Gymnasium ist in der Abiturzeitung des Jahrgangs 2019 etwas schief gegangen. Folgende Sprüche waren darin zu lesen:
„Mir sind die Flüchtlinge nicht wichtig. Die können verbrannt werden zur Energiegewinnung.“
„Nach dem Ende des Flüchtlingswahns kann man mit großen Netzen durchs Mittelmeer fahren, um die Ertrunkenen zu zählen.“
„Im Zweiten Weltkrieg gab es gesellschaftlichen Zusammenhalt: gegen die Juden.“
Diese Äußerungen stammen von einem Schüler, dessen Privatsphäre ich dadurch wahre, dass ich ihn Robert nenne. Der Chefredakteur der Abi-Zeitung – ich nenne ihn Alexander – ließ diese Zitate „durchrutschen“, wie er sich später rechtfertigte. Man könnte auch sagen: Ihm ist die Brisanz, oder besser: der menschenverachtende Tenor der Zitate, nicht aufgefallen. Mitschüler nehmen den Redakteur in Schutz: Solche Zitate dürfe man nicht ernst nehmen, sie seien Ausdruck von Sarkasmus, manchmal eben auch auf Kosten von Minderheiten. Deshalb hätten bei dem Redakteur die Alarmglocken nicht geklingelt.
Der Schulleiter des Gymnasiums untersagte nach Bekanntwerden der anstößigen Sprüche den weiteren Verkauf der Zeitung und bestellte die beiden Schüler zum Gespräch. Robert gab zu, die beiden letzten Sprüche gesagt zu haben, an den schlimmen ersten könne er sich nicht mehr erinnern. Vermutlich war ihm mittlerweile klar geworden, wie gruselig das erste Zitat vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist. Alexander rechtfertigte den Abdruck der Zitate mit seiner Nachlässigkeit bei der Redaktion der Beiträge, die ihm aus den Klassen zugemailt worden sind.
Die „Strafen“, die der Schulleiter verhängte, fielen milde aus. Robert durfte nicht mehr am Musical mitwirken, das die Schule regelmäßig mit großem künstlerischem Aufwand unter professioneller Anleitung einer Sängerin aufführt. Alexander bekam keine Empfehlung mehr für die Aufnahme in die Studienstiftung des deutschen Volkes, die für besonders begabte Schüler ein Stipendium auslobt.
Damit hätte die Sache erledigt sein können, wenn die Eltern von Robert und Alexander nicht Anwälte eingeschaltet hätten, die gegen die Schulstrafen Beschwerde einlegten. Plötzlich widerrief Robert sein Geständnis und bestritt, die Sprüche im Unterricht überhaupt gesagt zu haben. Verwunderlich dabei ist, dass diese unmenschlichen Äußerungen, die im Unterricht gefallen sind, von keinem der betroffenen Lehrer an die Schulleitung gemeldet worden waren. In der verfahrenen Situation schaltete sich das Ministerium in Kiel ein und schickte eine Delegation in die Schule. In großen Runde wurde der Vorfall mit allen Beteiligten diskutiert. Der Schulleiter stand plötzlich am Pranger, weil Robert stur behauptete, ihm gegenüber kein Geständnis abgelegt zu haben. Das hätte er auch nicht nötig gehabt, weil er die Äußerungen ja gar nicht getan hat. So in die Enge getrieben, blieb dem Schulleiter nichts anderes übrig, als die beiden ohnehin milden Strafen zurückzunehmen. Es gab noch ein unschönes Nachspiel. Die Jahrgangskameraden der beiden Schüler stellten sich in einer Stellungnahme hinter ihre beiden Freunde. Die Schulleitung wurde bezichtigt, zu schnell einen Schuldigen gesucht zu haben, „um die Schule reinzuwaschen“. Kein Wort des Bedauerns und kein Wort darüber, was diese Sprüche im Kontext der deutschen Geschichte bedeuten. Haben diese Schüler, die bald zur deutschen Elite zählen, im Geschichtsunterricht geschlafen?
Was kann man aus diesem Vorfall lernen? Es war ein großer Fehler des Schulleiters, nicht sofort nach Bekanntwerden der Zitate die Polizei eingeschaltet zu haben. Ab 14 Jahren sind Jugendliche bedingt strafmündig. Selbst wenn Robert und Alexander noch nicht volljährig waren, als die Abiturzeitung erschienen ist, hätten sie mit einer Jugendstrafe wegen Volksverhetzung rechnen müssen. Die Untersuchung durch die Polizei hat gegenüber den Gesprächen, die Klassenlehrer und Schulleiter mit jungen Delinquenten führen, einen großen Vorteil: Sie wird ernst genommen. Selten versuchen Schüler, wenn sie von einem Kriminalbeamten vernommen werden, herumzulavieren oder sich in Ausreden zu flüchten. Die üblichen „Verhandlungstaktiken“, die Schüler in Gesprächen mit Lehrern so blendend beherrschen, fruchten bei der Polizei nicht. Die Polizei muss auch keine pädagogischen Rücksichten nehmen, die für Lehrer oberstes Gebot sind. Kluge Schulleiter rufen deshalb bei solchen Vorfällen die Polizei und warten ab, was deren Untersuchungen ergeben. Im zweiten Schritt können dann die pädagogischen Maßnahmen erfolgen, die eine Schule immer auch ergreifen muss. Sie sind nötig, um an die Schulgemeinde das eindeutige Signal zu senden, das ein bestimmtes Verhalten unerwünscht ist und Sanktionen zur Folge hat.
Wie hätten angemessene pädagogische Maßnahmen bei Robert und Alexander aussehen können? Sie hätten verpflichtet werden können, in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Hamburg-Neuengamme – keine 100 km von ihrer Schule entfernt – Führungen für Schulklassen durchzuführen. Sie hätten zudem verpflichtet werden können, einmal in der Woche ehrenamtlich in einer Willkommensklasse für Flüchtlingskinder Deutsch zu unterrichten. Es ist ein alter Grundsatz der Reformpädagogik, dass man die Gemeinschaft, die man durch Fehlverhalten verletzt hat, wieder versöhnen muss – am besten auf dem Felde, auf dem das Fehlverhalten stattgefunden hat.
Menschlich enttäuscht mich am meisten, dass diese beiden jungen Männer nicht den Mut aufgebracht haben, zu ihrem Fehlverhalten zu stehen. Es gibt Zusammenhänge, in denen Feigheit als ehrlos empfunden wird. Den antirassistischen Konsens der Deutschen fahrlässig zu beschädigen, ist keine Kleinigkeit. Das Verhalten dieser beiden Schüler zielt nämlich ins Herz unseres Staatsverständnisses: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.