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Leitkultur in der Schule

Die Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty durch einen 18-jährigen Islamisten hat auch hierzulande die Frage aufgeworfen, wie groß  in unseren Schulen der Einfluss des politischen Islam gediehen ist. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger sprach davon, dass in Schulen mit hohem Anteil muslimischer Schüler die Lehrer unter Druck gesetzt würden, Themen wie Nahostkonflikt oder Israel  im Unterricht zu vermeiden. Die Schere im Kopf führe sogar dazu, dass  Lehrkräfte  Filme wie „Schindlers Liste“ nicht mehr zeigten.

Die Schule ist eine Institution, in der sich  gesellschaftlichen Verwerfungen hautnah abbilden. Alle Konflikte, die in der Gesellschaft ausgefochten werden, landen über kurz oder lang auch in den Klassenzimmern. Deshalb wären die Kultusminister gut beraten, die Spielregeln, die in der Schule gelten sollen, klarer und deutlicher als bisher zu definieren. Die Schulgesetze reichen dafür offensichtlich nicht mehr aus.  Ich habe mich nie gescheut, von einer Leitkultur zu sprechen, die als Leitplanke für innerschulisches Handeln dienen könnte. Der Begriff Leitkultur wurde  1996 von dem deutsch-syrischen Politologen Bassam Tibi geprägt. Er zählte dazu die Werte der „kulturellen Moderne“ wie Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft. Der in den letzten Jahren ausgetragene politische Streit um den Begriff der „deutschen“ Leitkultur war überflüssig, weil die von Tibi formulierten Werte für jedes Staatswesen des Westens gelten, das den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein. Wie könnte eine Leitkultur für die Schule aussehen?

Wichtigstes Prinzip der demokratischen Schule ist ihre Neutralität. Sie ist  nötig, weil sich im Kosmos Schule Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, sozialer Schichtzugehörigkeit, Lebensstile,  religiöser und weltanschaulicher  Prägung begegnen. Ein friedliches Zusammenleben aller Schüler – wichtigste Voraussetzung für erfolgreichen Unterricht – ist nur gewährleistet, wenn das Trennende, die Identitätsunterschiede, ausgeblendet werden. Dies gelingt nur in einer Kultur der Toleranz, durch  Akzeptanz des Andersseins. Daraus folgt schlüssig, dass politische und religiöse Einflussnahmen – gleichgültig,  von welcher  Seite sie kommen –  in der Schule nicht gestattet werden können. Deutschland kennt nicht die strenge französische Laizität. Im Religionsunterricht geben  wir  den Konfessionen Raum,  ihren Glauben zu präsentieren. Im Unterricht aller anderen Fächer muss hingegen strikte weltanschauliche   und religiöse Neutralität herrschen, wenn man nicht riskieren will, dass die heftigen Affekte, die sich oft  an „die letzten Dinge“ heften, den Bildungsprozess beschädigen. Vor dem Satz des Pythagoras oder Lessings Ringparabel sind alle Schüler gleich. Hier zählen nur Bildungswille und Auffassungsgabe. Die Integrationsleistung unserer Schulen ist gerade deshalb so hoch, weil das Wissen, das sie vermitteln, alle Schüler einander  gleich macht.

Ein leidiges Problem an unseren Schulen ist das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen. Sie versuchen, das Neutralitätsgebot aufzuweichen, indem sie sich beim Tragen des Kopftuchs auch im Unterricht auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 des Grundgesetzes berufen. Man kann sich lebhaft ausmalen,  welche Wirkung von dem Kopftuch ausgeht, das eine Lehrerin trägt. Für Schüler sind Lehrer Vorbilder. Eine Lehrerin mit Kopftuch signalisiert den muslimischen Mädchen, dass eine streng religiöse Einstellung letztlich  wichtiger  sei als gute  Bildung. Solche Mädchen werden kaum Widerstand leisten können, wenn ihre Eltern bestimmen, dass sie nach der 10. Klasse die Schule verlassen, um zu heiraten. Dabei zählen  gerade muslimische Mädchen, wenn sie es bis zum Abitur schaffen, zu den Besten. Wenn die Religionsfreiheit von Lehrerinnen mit dem Neutralitätsgebot kollidiert, sollten der Bildungsauftrag der Schule und  das Schülerwohl den Ausschlag geben. Wenn dazu die Schulgesetze nicht ausreichen, muss die Neutralität der Schule im Grundgesetz verankert werden.

Der Unterricht in der demokratischen Schule   will die Schüler zu mündigen Staatsbürgern erziehen. Sie sollen sich für das Gemeinwohl  engagieren. Politisches und zivilbürgerliches Engagement ist  durchaus  erwünscht.  Unzulässig ist jedoch,  politische Aktivitäten  in die Schule hineinzutragen. In Oberstufenkursen trifft man häufig auf Schüler, die in ihrer Freizeit als Aktivisten unterwegs sind. Sie engagieren sich als Klimaschützer, Hausbesetzer oder Flüchtlingshelfer. Im Rahmen eines gut geführten Politikunterrichts dürfen sie in Referaten ihr Anliegen erläutern. Keinesfalls aber sollte ihnen erlaubt sein, Mitschüler zu agitieren oder gar zu bedrohen, wenn sie ihrem Anliegen  nichts abgewinnen können. Die Vertreter von Fridays  for Future schrammten haarscharf an dieser Grenze vorbei, als sie sich mit Mitschülern anlegten, die es ungerecht fanden, dass sie für das Schwänzen am Freitag keine Fehlzeiten eingetragen bekommen. Die hymnische Bewunderung, die Fridays for Future in der Öffentlichkeit erhält, spiegelt nach meiner Erfahrung  nicht die Stimmung in den Klassen wider. Von ihren Mitschülern werden die Klimaaktivisten häufig als arrogant und überheblich wahrgenommen.“ FFF“ hat auch Lehrkräfte in Versuchung geführt, von der Anwendung gültiger Fehlzeitenregelungen abzusehen. Eine solche Pädagogik im Dienste des Guten verletzt ein wichtiges schulisches Prinzip: die Gleichheit aller Schüler. Die Regeln müssen für alle gelten. Würde man sie aufweichen, öffnete man die Büchse der Pandora. Bald würden  Aktivisten mit weniger honorigen  Zielen dasselbe Recht beanspruchen. Die Demokratie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ihre  Spielregeln  sakrosankt  sind. Das sollte auch für die Schule gelten, in der Schüler die Demokratie erproben.

Ein wichtiges Prinzip der Schule ist  die  Wissenschaftlichkeit des Unterrichts. In den „exakten“ Fächern, Mathematik und Naturwissenschaften, ist das unumstritten. Schwieriger wird es in den Gesellschaftswissenschaften, vor allem in Politischer Wissenschaft und  Geschichte. In diesen Fächern gibt es keine objektive Wahrheit, sondern nur Annäherungen, sinnfällige Evidenzen,  vorläufige Erkenntnisse, die sich durch Neubewertung der Quellen oder durch  gesellschaftliche Erfahrungen verändern können. Ein Blick in die Lehrwerke der Schulbuchverlage zeigt, wie man durch selektive Quellenauswahl und durch geschickt formulierte Kommentare das Wissen der Schüler lenken kann. Häufig wird die Soziale Markwirtschaft  in Frage gestellt, indem ihr die Attitüde  eines Raubtierkapitalismus unterstellt wird. Es gibt kaum ein Lehrwerk über die Wiedervereinigung, indem nicht  der Treuhandanstalt  unterstellt würde, die Wirtschaft der DDR ruiniert und an westdeutsche Konzerne verscherbelt zu haben. Seit die Archive der Treuhandanstalt für wissenschaftliche Recherchen zugänglich sind, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Die Treuhand hat aus dem Staatsbankrott der DDR das Optimum herausgeholt. Die Schulbücher der Verlage sollten genauer auf ideologische Voreingenommenheit untersucht werden.

Das Fach Geschichte ist neuerdings  Ziel von tagespolitisch motivierten Interventionen. Im Leistungskurs Geschichte treten Schüler auf, die – beeinflusst vom Konzept des Cancel Culture – historische Personen nachträglich moralisch diskreditieren und dazu aufrufen, Statuen solcher Personen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. So werden  Bismarck  die Verbrechen des deutschen Kolonialismus angelastet, seine Verdienste um Deutschland –  Reichseinigung und Sozialgesetzgebung –  hingegen ausgeblendet. Einem solchen unhistorischen Ansinnen sollten die Geschichtslehrer deutlich entgegentreten. Es gehört zu den Axiomen der Geschichtswissenschaft, dass man historische Ereignisse und Personen  nur aus der Zeit heraus   verstehen kann.  Wenn man von  Gegenwartsproblemen  ausgeht, ist man immer versucht, die Messlatte heutiger Demokratie- und  Moralvorstellungen an vergangene Zeiten anzulegen, was zu falschen Urteilen führen muss. Kein vernünftiger Mensch würde Martin Luther aus dem Gedächtnis der Deutschen löschen wollen, weil er dazu aufrief, die aufständischen Bauern zu erschlagen und die Synagogen der Juden niederzubrennen. Seine Verdienste um die Erneuerung des christlichen Glaubens und um die Erschaffung einer deutschen Einheitssprache durch seine Bibelübersetzung wiegen die Schattenseiten  seines Wirkens auf. Die Nachgeborenen müssen lernen,  die Ambivalenz historischer Personen zu ertragen. Das kollektive Gedächtnis einer Nation benötigt ein Geschichtsbild, dass nur der historischen Wahrheit verpflichtet ist und sich tagespolitischen Instrumentalisierungen entzieht. Ein guter  Geschichtsunterricht kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten.

Willy Brandt sagte im Jahre 1969, in  einer ähnlich turbulenten Zeit wie der heutigen,   den bemerkenswerten Satz: „Die Schule der Nation ist die Schule.“ Er hätte sich damals nicht träumen lassen, dass diese Aussage im Jahre 2021 eine ganz neue Wahrheit gewinnt.

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Menschenverachtende Sprüche am Gymnasium

Das Abitur ist für Schüler der wichtigste Einschnitt in ihrem  jungen Leben. Mit diesem Zertifikat verlassen sie den Schutzraum Schule, in dem sie sich 12 Jahre lang relativ behütet vor den gesellschaftlichen Turbulenzen aufgehalten haben. In jeder Abiturrede ist   vom „Ernst des Lebens“ die Rede, der jetzt beginne. Da die Anspannung vor dem Abitur besonders groß ist, braucht es bei bestandenem Abitur eine entsprechende Entlastung, ein Ventil. Freche Abi-Streiche, ein aufwändiger Abiturball und private Besäufnisse dienen dazu, die Wehmut beim Abschied von der Schule und den Kameraden  zu bewältigen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Abi-Zeitschrift. In ihr präsentiert sich der ganze Jahrgang in lebendig gestalteten Portraits der einzelnen Schüler. Eine Rubrik darf nicht fehlen:  „Sprüche aus dem Unterricht“. Da sind dann die frechsten, originellsten Äußerungen der Abiturienten versammelt, an denen man sich  ein Leben lang ergötzen kann.

Am  Brunsbütteler Gymnasium  ist in der Abiturzeitung des Jahrgangs 2019 etwas schief gegangen. Folgende Sprüche  waren darin  zu lesen:

„Mir sind die Flüchtlinge nicht wichtig. Die können verbrannt werden zur Energiegewinnung.“

„Nach dem Ende des Flüchtlingswahns kann man mit großen Netzen durchs Mittelmeer fahren, um die Ertrunkenen zu zählen.“

„Im Zweiten Weltkrieg gab es gesellschaftlichen  Zusammenhalt: gegen die Juden.“

Diese Äußerungen stammen von einem Schüler, dessen Privatsphäre ich dadurch wahre, dass ich ihn Robert nenne. Der Chefredakteur der Abi-Zeitung – ich nenne ihn Alexander –  ließ diese Zitate „durchrutschen“, wie er sich später rechtfertigte. Man könnte auch sagen: Ihm ist die Brisanz, oder besser: der menschenverachtende Tenor der Zitate, nicht aufgefallen. Mitschüler nehmen den Redakteur in Schutz:  Solche Zitate dürfe man nicht ernst nehmen, sie seien Ausdruck von Sarkasmus, manchmal eben auch auf Kosten von Minderheiten. Deshalb hätten bei dem Redakteur  die Alarmglocken nicht geklingelt.

Der Schulleiter des Gymnasiums untersagte  nach Bekanntwerden der anstößigen Sprüche  den weiteren Verkauf der Zeitung und bestellte die beiden Schüler zum Gespräch. Robert gab zu, die beiden letzten Sprüche gesagt zu haben, an den schlimmen  ersten könne er sich nicht mehr erinnern. Vermutlich war  ihm mittlerweile klar geworden, wie gruselig  das erste Zitat vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist. Alexander rechtfertigte den Abdruck der Zitate mit seiner  Nachlässigkeit bei der Redaktion der Beiträge, die ihm aus den Klassen zugemailt worden sind.

Die „Strafen“, die der Schulleiter verhängte, fielen milde aus. Robert durfte  nicht mehr am Musical mitwirken, das die Schule regelmäßig mit großem künstlerischem Aufwand unter professioneller Anleitung einer Sängerin aufführt. Alexander bekam  keine Empfehlung mehr für die Aufnahme in die Studienstiftung des deutschen Volkes, die für besonders begabte Schüler ein Stipendium auslobt.

Damit hätte die Sache  erledigt sein können, wenn die Eltern von Robert und Alexander nicht Anwälte eingeschaltet hätten, die gegen die Schulstrafen Beschwerde  einlegten. Plötzlich widerrief  Robert sein Geständnis und bestritt, die Sprüche im Unterricht überhaupt  gesagt zu haben. Verwunderlich dabei ist, dass diese unmenschlichen Äußerungen, die im Unterricht gefallen sind, von keinem der betroffenen  Lehrer  an die Schulleitung gemeldet worden waren.  In der verfahrenen Situation   schaltete sich das Ministerium in Kiel ein und schickte eine Delegation in die Schule. In  großen Runde wurde  der Vorfall mit allen Beteiligten  diskutiert. Der Schulleiter stand  plötzlich am Pranger, weil Robert stur behauptete, ihm gegenüber kein Geständnis abgelegt zu haben. Das hätte er auch nicht nötig gehabt, weil er die Äußerungen ja gar  nicht getan hat. So in die Enge getrieben, blieb dem Schulleiter nichts anderes übrig, als die beiden  ohnehin  milden   Strafen zurückzunehmen. Es gab noch ein unschönes Nachspiel. Die Jahrgangskameraden der beiden Schüler stellten sich in einer Stellungnahme hinter ihre beiden Freunde. Die Schulleitung wurde  bezichtigt,  zu  schnell einen Schuldigen  gesucht zu haben, „um die Schule reinzuwaschen“. Kein Wort des Bedauerns und kein Wort darüber, was diese Sprüche im Kontext der deutschen Geschichte bedeuten. Haben diese Schüler, die bald zur deutschen Elite zählen, im Geschichtsunterricht geschlafen?

Was kann man aus diesem Vorfall lernen? Es war ein großer Fehler des Schulleiters, nicht  sofort nach Bekanntwerden der Zitate die Polizei eingeschaltet zu haben.  Ab 14 Jahren sind Jugendliche  bedingt strafmündig. Selbst wenn Robert und Alexander noch nicht volljährig waren, als die Abiturzeitung erschienen ist, hätten sie mit einer Jugendstrafe wegen Volksverhetzung rechnen müssen. Die Untersuchung durch die Polizei hat gegenüber den Gesprächen, die Klassenlehrer und Schulleiter mit jungen Delinquenten führen, einen großen Vorteil: Sie wird ernst genommen. Selten versuchen Schüler, wenn  sie von einem Kriminalbeamten vernommen werden, herumzulavieren oder sich in Ausreden zu flüchten. Die üblichen „Verhandlungstaktiken“, die Schüler in Gesprächen mit Lehrern so blendend beherrschen, fruchten bei der Polizei nicht. Die Polizei muss auch keine pädagogischen Rücksichten  nehmen, die für Lehrer  oberstes Gebot sind. Kluge Schulleiter rufen deshalb  bei solchen Vorfällen die Polizei und warten ab,  was deren Untersuchungen ergeben. Im zweiten Schritt können dann die pädagogischen Maßnahmen erfolgen, die eine Schule immer auch  ergreifen muss. Sie sind nötig, um an die  Schulgemeinde  das eindeutige Signal zu senden, das ein bestimmtes  Verhalten   unerwünscht ist und Sanktionen  zur Folge hat.

Wie hätten angemessene pädagogische Maßnahmen bei Robert und Alexander aussehen können?  Sie hätten verpflichtet werden können, in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Hamburg-Neuengamme  –  keine  100 km von ihrer Schule  entfernt –   Führungen für Schulklassen  durchzuführen. Sie hätten zudem verpflichtet werden können, einmal  in der Woche ehrenamtlich  in einer Willkommensklasse für Flüchtlingskinder Deutsch  zu unterrichten. Es ist ein alter Grundsatz der Reformpädagogik, dass man die Gemeinschaft, die man durch Fehlverhalten verletzt  hat, wieder versöhnen muss – am besten auf dem Felde, auf dem das Fehlverhalten stattgefunden hat.

Menschlich enttäuscht mich am meisten, dass diese beiden jungen  Männer nicht den Mut aufgebracht haben,  zu ihrem Fehlverhalten zu stehen. Es gibt Zusammenhänge, in denen Feigheit als  ehrlos  empfunden wird.  Den antirassistischen Konsens der Deutschen fahrlässig zu beschädigen, ist keine Kleinigkeit. Das Verhalten dieser beiden Schüler zielt nämlich  ins Herz unseres Staatsverständnisses: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

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15 Jahre Kompetenzorientierung im Unterricht – kein Grund zum Feiern

Die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts hat dazu geführt, dass das Fachwissen der Schüler abnimmt. Dass Wissen und  Können eine untrennbare Einheit bilden, wurde allzu lange ignoriert.

Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sorgten in den Amtsstuben deutscher Bildungspolitiker für Unruhe.  Die deutschen Schüler waren nämlich in den drei Testfeldern Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften nur im unteren Mittelfeld der teilnehmenden Industrieländer gelandet. Experten machten den primär  auf Wissenserwerb ausgerichteten Unterricht für das Versagen der Schüler verantwortlich. Sie hatten nämlich festgestellt, dass die Aufgaben, die die Schüler bei PISA zu lösen hatten, kompetenzorientiert waren. Also war Reformbedarf angesagt.  2005/2006 führte die Kultusministerkonferenz für die Fächer Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache  bundesweit geltende Mindeststandards ein. Diese Standards gingen auf den Vorschlag des  Frankfurter  Bildungsforschers Eckard Klieme zurück. In Kliemes Expertise aus dem Jahr 2004 tauchen Wissensinhalte und Kompetenzen noch in einem ausgewogenen Verhältnis auf: „Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her.“ In den Kompetenzmodellen, die die Bildungsminister der Länder auf Grundlage der Bildungsstandards entwickelten, drängten sich dann die Kompetenzen so in den Vordergrund, dass der Anschein erweckt wurde, die zu vermittelnden  Inhalte seien künftig sekundär. So hieß es im Berliner Rahmenlehrplan Deutsch für die gymnasiale Oberstufe: „Dabei dienen Inhalte dem Erwerb von Kompetenzen.“ Nach der  Kritik von Deutschlehrern wurde diese anstößige Formulierung abgemildert:  „[Es sollen] nicht nur die Systematik des Faches, sondern vor allem  der Beitrag zum Kompetenzerwerb  berücksichtigt werden.“  Die Formulierung „vor allem“ gibt  der  Kompetenz  immer noch  den Vorrang vor dem  Erwerb von Fachwissen – mit bedenklichen Folgen für den Unterricht.

Die meisten Bildungspläne der Bundesländer  beziehen sich auf die Kompetenz-Definition, die der Psychologe Franz E. Weinert entwickelt hat. Kompetenzen sind  für ihn die „kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen.“  Diese Definition zeigt schon die ganze Problematik.  Denn gymnasiales  Lernen intendiert  nur zu einem Teil die Entwicklung kognitiver „Fähigkeiten“. Es besteht auch  keineswegs nur aus „Problemlösen“ und zielt nicht immer  auf „Anwendung“.  Wichtige Lerninhalte der  Fächer  Deutsch, Musik, Bildende Kunst, Philosophie, Theater und Sport lassen sich mit Kompetenzmustern gar nicht erfassen. Und es sind gerade die  zweckfreien Gegenstände,  die den Schülern ein echtes Bildungserlebnis bescheren.  Als  Wilhelm  von Humboldt das deutsche Gymnasium schuf,  ging sein Bildungsbegriff     vom Primat  des Lerninhalts aus.   Lerngegenstände müssten  „idealisch“ sein, sich also einem vorgestellten kulturellen  Ideal annähern.  Das Verständnis der Welt erschließt sich – so Humboldts Credo – Schülern primär über Wissensinhalte: „Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich macht.“ Von diesem eindeutigen Primat des Inhalts  kann  im heutigen Fachunterricht nicht mehr die Rede sein.

Im Literaturunterricht der Gymnasien hat sich inzwischen die Praxis herausgebildet,  von vornherein auf die Besprechung schwieriger Texte, etwa der Gedichte von Hölderlin, Rilke, Benn, Celan  und Bachmann, zu verzichten. Wegen ihrer schwierigen Erschließbarkeit widerstreben sie den  „schülerzugewandten“ Lehrmethoden und der Kompetenzorientierung Gerade das, was  die Qualität unserer klassischen Texte   ausmacht, ihre poetische Verrätselung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht „moderner“  Prägung. Früher fragte eine Lehrkraft, wenn sie eine Deutsch-Stunde für die 9. Klasse plante: Welcher Text ist für junge Menschen geeignet, die nach geistiger Orientierung und Sinnstiftung  verlangen? Heute lautet die Frage: Welcher Text  eignet sich  besonders gut, um  die Kompetenz „Erzählperspektiven identifizieren“ griffig einüben zu können? Die Lehrkraft wird  eine Kurzgeschichte wählen, in der die allwissende Erzählperspektive in Reinform  vorkommt, aber nicht unbedingt eine Erzählung, die  literarisch besonders wertvoll ist. Wie sich die  Kompetenzorientierung des Unterrichts in der schulischen Praxis auswirkt, konnte ich  in der Referendar-Betreuung  hautnah erleben. Ein junger Kollege  fragte mich, ob ich ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text empfehlen könne. Ich meinte, „Vor dem Gesetz“ oder „Eine kaiserliche Botschaft“  von Franz Kafka seien wertvolle, anspruchsvolle Texte, die bei Schülern gut ankommen und  mit denen man ihr Textverständnis  herausfordern kann. Der Referendar blickte mich verzagt an und meinte, der Fachseminarleiter wolle von ihm die Unterrichtsmethode „Lernen an Stationen“ sehen. Zudem sollten die Schüler die Kompetenz  „textsortenspezifisches Wissen nutzen“  einüben. Darauf sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich nicht an Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof –  ein gehaltvolles Unterrichtsgespräch.  Dieses Beispiel zeigt das ganze Dilemma: Zwei formale Kriterien, Unterrichtsmethode und Kompetenz, bestimmen die Wahl des  Unterrichtgegenstands. Die Qualität des zu lernenden  Stoffes   spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Schulbuchverlage sind natürlich auf den „Kompetenzzug“ aufgesprungen.  In der  Pädagogikabteilung von  Buchhandlungen stößt man zu Hauf auf Titel wie „Methodentraining“, „Lerntraining“, „Abiturtraining“, „Kompetenzen trainieren“. Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist.

Im Fach Geschichte sind die Kompetenzen sehr viel enger mit Stoffinhalten verknüpft als im Literaturunterricht. Kann der Deutschlehrer  einen Text verschmähen, wenn er sich der Einübung einer Kompetenz „widersetzt“, wäre dies in Geschichte nicht möglich, wollte man  den Geschichtsprozess  nicht verfälschen. Die Probleme, die der Kompetenzbegriff dem Fach Geschichte beschert hat, liegen deshalb auf einem anderen Gebiet. Die meisten Lehrpläne benennen  drei grundlegende Kompetenzen der Geschichtsvermittlung: Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Urteilskompetenz. Da die fachspezifischen Kompetenzen zusätzlich von überfachlichen Schlüsselqualifikationen  überlagert werden, sieht sich die Lehrkraft in der Unterrichtspraxis einer komplexen Palette an formalen Anforderungen gegenüber, hinter der das eigentliche Substrat des Geschichtsunterrichts – die Vermittlung historischen Grundlagenwissens – verschwindet. Der Kernlehrplan Geschichte von Nordrhein-Westfalen  nennt allein für die Doppeljahrgangsstufe 5/6 des Gymnasiums 33 Einzelkompetenzen. In der Fachzeitschrift „Geschichte und Wissenschaft“ (11/12,  2018) berichten  erfahrene Lehrkräfte, dass sich vor allem Lehramtsanwärter durch die geballte Ladung an  Kompetenzen so unter Druck gesetzt fühlen, dass   sie  diese   beflissen   einüben, ohne zuvor  das dafür  nötige fachliche Fundament gelegt zu haben.  „Fertigkeiten“ ohne sachliche Grundlage  laufen jedoch  ins Leere und führen das Kompetenzmodell ad absurdum.

Wenn Schüler  eine „narrative Kompetenz“ ausbilden, also Geschichte(n) erzählen sollen, ist es unabdingbar, dass sie zuvor  die betreffende historische  Epoche geistig durchdrungen haben. Erst dann können sie kompetent „erzählen“. Die meisten Lehrpläne verzichten aber darauf, die historischen Ereignisse, die unbedingt vermittelt werden müssen, klar zu benennen und sie einer  Schlüsselkompetenz  zuzuordnen.  Ein kohärentes Geschichtsbild kann so nicht entstehen. Schädlich ist auch der in vielen Lehrplänen geforderte Gegenwarts- und Lebensweltbezug. Unerfahrene Lehrkräfte neigen dazu, die Stoffinhalte aus vergangener Zeit so aufzubereiten, dass sie für die Bewertung aus heutiger Sicht „passen“. Eine solche Geschichtsbetrachtung leistet der fragwürdigen Tendenz in unserer Gesellschaft Vorschub, historische Persönlichkeiten mit der moralischen Messlatte von heute zu bewerten und bei  Nichtgefallen  den Daumen über sie  zu senken. Auf diese Weise wurden in letzter Zeit  Straßen umbenannt sowie  Schulen und Universitäten ihres Namenspatrons beraubt  (z.B. Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt). Mit historischem Denken hat dies wenig zu tun.  Hätten die Geschichtsmoralisten gelernt, dass man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus der Zeit heraus verstehen kann, wären solche  moralischen  Kurzschlüsse nicht möglich gewesen. Im Geschichtsunterricht habe ich die Erfahrung gemacht, dass es lange dauert, bis die Schüler ein historisches Ereignis so verstanden haben, dass sie sich ein fundiertes Urteil darüber   erlauben können. Schnellschüsse zur Erfüllung der „Urteilskompetenz“ führen immer zu halbgaren  Aussagen. Als Zweitkorrektor habe ich Abiturarbeiten gelesen, in denen die Schüler meinungsstark argumentierten, ohne über ein   hinreichendes  Faktenwissen zu verfügen. Was jedem Lehrer sofort einleuchtet, hat sich hier offenbart: Über einen Sachverhalt kann man nur dann  eine seriöse Meinung formulieren, wenn man ihn geistig durchdrungen hat. Und für diese geistige Aneignung   sind Kenntnisse – durchaus auch konkretes Faktenwissen – unverzichtbar. Auch die vielfach geforderte Vernetzung des Wissens ist nur auf einer soliden Wissensbasis möglich. Man kann nur dann neues Wissen aufnehmen, wenn man es an bekannte Wissensbestände andocken kann.

Das Kompetenz-Konzept der Didaktik verkennt die wichtigste Aufgabe von Bildung und Ausbildung: Wissen zu vermitteln. Über  Wissen zu verfügen,  ist die wichtigste Kompetenz. Nur auf der Grundlage eines profunden Wissens sind  die  geforderten instrumentellen  Fertigkeiten, wie diskutieren, kritisch reflektieren und präsentieren, erst sinnvoll anzuwenden. Viele Lehrkräfte beklagen inzwischen die inhaltliche Verarmung, die mit der Kompetenzorientierung einhergeht.  Auch in der pädagogischen Wissenschaft nimmt die Kritik am Kompetenzbegriff zu. Wissenschaftler kritisieren vor allem den instrumentellen  Charakter der Kompetenzen. Es gehe im Unterricht nicht mehr primär darum, das  zu lernen, was einen Wert in sich trägt, was also für die  geistige Entwicklung Heranwachsender wertvoll und sinnstiftend  ist, sondern nur noch das, woraus  die Schüler einen praktisch-beruflichen Nutzen ziehen können. Dieser utilitaristische Kompetenzbegriff  verhindere – so die Kritiker  – das  tiefgründige Durchdringen des Unterrichtsgegenstands, was immer die Domäne gymnasialen Lernens gewesen sei. Der Züricher Pädagogikwissenschaftler Roland Reichenbach insistiert auf den Primat des Unterrichtstoffes gegenüber den didaktischen Methoden und Kompetenzen: „Eine pädagogische Beziehung definiert sich  primär  über die Inhalte, die man vermittelt. Die Abwertung des Wissens ist ein großer Fehler. Die Kinder machen es uns vor. Sie interessieren sich für Dinosauriere  oder für Flugzeuge. Das sind Stoffe, keine Kompetenzen.“  (Zürich, 2016)

15 Jahre Bildungsstandards und Kompetenzen sollten Anlass sein, das Kompetenzmodell des Unterrichts kritisch zu überprüfen. Lehrkräfte und Wissenschaftler sollten der Bildungspolitik  ihre Erfahrungen  zur Verfügung stellen. Ein Revisionsziel  scheint heute schon unumgänglich  zu sein: Der Wissensvermittlung muss  künftig wieder  Vorrang vor  dem Erwerb von Kompetenzen   eingeräumt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Schüler sollten mehr über Israel wissen

Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT vom 21. 10. 2019

Antisemitismus an Schulen speist sich vor allem aus dem Nahostkonflikt. Dabei ist auffällig, dass neben  muslimischen  auch linksliberale deutsche Schüler antijüdisch denken.

 Glaubt man dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein, so hat  der Antisemitismus an Schulen  deutlich  zugenommen. Auch die Presse nimmt davon Notiz. Immer wieder kann man Berichte lesen, dass jüdische Schüler an öffentlichen Schulen gemobbt, ja geschlagen werden. In Berlin  sind  antisemitische Attacken unter Schülern so  häufig geworden, dass in den Notfallplänen der Berliner Schulen Antisemitismus als eigenständige Kategorie gilt. Die  Schulleitungen sind  verpflichtet, solche  Vorfälle der Senatsverwaltung für Bildung  und der Polizei zu melden. Familienministerin Franziska Giffey (SPD), die auch für die Jugend zuständig ist, will 170 „Anti-Mobbing-Profis“ an die  Schulen schicken, die in Klassen mit einer großen multikulturellen Mischung  für einen friedfertigen Umgang miteinander sorgen sollen. Weiterlesen

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Inselparadies mit dunkler Vergangenheit

Auf der Insel Reiswerder im Tegeler See versteckten sich 1943 fünf Juden. Nach 18 Monaten wurden sie von der Gestapo entdeckt und in verschiedene  Konzentrationslager verschleppt.

Betritt man nach kurzer Fahrt mit der Fähre das kleine Eiland Reiswerder im Tegeler See, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt: Kleine Lauben, eine Gaststätte namens „Inselbaude“, ein insulares Rathaus versammeln sich  unter dem Kronendach  hoher alter Bäume stattlichen Ausmaßes. Die Uferzonen sind durch dichtes Gestrüpp und grüne  Schilfgürtel  vom bunten Treiben auf der Insel abgetrennt. Auf Reiswerder gibt es seit 1914 den „Verein der Naturfreunde Baumwerder-Reiswerder e.V.“, der den „ökologisch verwalteten ´Inselstaat`“ – so der zweite Vorsitzende des Vereins Lothar Berndorff – organisiert. Auf der Insel können Städter  dem Großstadttrubel  entkommen und  in unberührter Natur Ruhe  und Entspannung  finden. Weiterlesen

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