In unserem Land ist es modisch geworden, unsere Schulen schlecht zu reden, sie für alles Ungemach der Gesellschaft verantwortlich zu machen. So war In den letzten Monaten unser Schulsystem wieder heftig unter Beschuss. Der SPIEGEL präsentierte der Nation auf seinem Titelblatt ein bekümmert blickendes junges Mädchen. Auf dem T-Shirt trägt es die Aufschrift „Ich kann nicht mehr“. Schule macht krank – so die Botschaft der Zeitschrift. Der Philosoph für alle Fälle, Richard David Precht, fordert in seinem neuesten Buch nichts weniger als eine „Bildungsrevolution“. Er hält die gegenwärtige Schule für völlig verfehlt und möchte alles abschaffen: die Noten, die Fächer und die Jahrgangsstufen. Kleine Münze gilt nichts mehr im Schulkrieg. Manche Kommentare zu Prechts Buch übertreffen ihn noch an triefendem Pessimismus. So schreibt der Autor der Süddeutschen Zeitung Peter Praschl, unsere Schulen würden die Kinder zu „fügsamen, still sitzenden und kooperativen Robotern“ abrichten. An die Lehrer-Schelte von Eltern hat man sich inzwischen gewöhnt. Vor einiger Zeit schrieb sich eine frustrierte Mutter den Ärger, den ihre Kinder wohl mit ihren Lehrern hatten, in einem „Lehrerhasserbuch“ von der Seele. Es wurde ein Bestseller.
Woher kommt die Vehemenz der Kritik an der Schule? Warum gleitet sie so oft ins Fundamentalistische ab? Von anderen gesellschaftlichen Einrichtungen kennt man diesen Furor nicht. Wer möchte schon das ganze Gesundheitswesen umkrempeln? Wo ist die Fundamentalkritik an unseren Architekten? Nur in der Kritik an der Schule entladen sich heftige Emotionen.
Sicher hat es mit der eigenen Schulzeit zu tun, die vielleicht wirklich eine Leidenszeit gewesen ist. Jeder hat mindestens einen schlechten Lehrer, eine schwache Schulleitung oder eine chaotische Schulorganisation erlebt. Da liegt es nahe, diese punktuellen Negativerfahrungen auf das „System“ hochzurechnen. Viele Medien berichten ohnehin lieber über das Scheitern als über das Gelingen. Vorbild ist das „Prinzip Tagesschau“. 95 % der Dinge, die sich die Menschen in unserem Land tagtäglich vornehmen, gelingen. Die Tagesschau berichtet über die restlichen 5 %.
Nach 35 Jahren Unterricht an fünf unterschiedlichen Schulen kann ich guten Gewissens behaupten: In unserer Schule gelingt eine ganze Menge. Anders ließe sich auch gar nicht erklären, dass die Kinder und Jugendlichen, die jeden Morgen in die Klassenzimmer strömen, nicht rebellieren. Sie sind keine Roboter, die zur Fügsamkeit abgerichtet wurden. Das ließe sich die heutige Jugend auch gar nicht gefallen. Jugendliche sind heute selbstbewusst, kritisch, durchaus hedonistisch gestimmt, aber auch offen für intellektuelle Anregungen, und – ja, gewiss – auch für Leistung. Wer die Jugendlichen für Lernsklaven hält, hat vermutlich schon lange keine Jugendlichen mehr aus der Nähe erlebt.
Mein subjektiver Eindruck lässt sich auch durch Zahlen belegen. In den sozialen Begleitstudien zu den drei PISA-Studien wurde die Schulzufriedenheit der Schüler getestet. Hier schneiden deutsche Schüler erstaunlich gut ab – besser als bei den intellektuellen Leistungen. Französische Schüler staunen, wenn sie in Deutschland zu Gast sind, über die lockere Atmosphäre, die in deutschen Klassenzimmern herrscht. Abrichtung, geisttötendes Pauken? In der Phantasie der Kritiker, nicht in der Realität.
Die Sinus-Jugendstudie von 2012 zeigt ebenfalls, dass die heutige Jugendgeneration keineswegs von Stress geplagt ist. Die meisten der befragten Jugendlichen geben an, dass sie die hohen Leistungsanforderungen in der Schule auch als Herausforderung begreifen. Das Fazit einer Abiturientin lautete: „Hart arbeiten, aber auch hart feiern“. An dieser Haltung hat auch die Einführung des Gymnasiums G 8 nichts geändert. Warum fragt man, bevor man als Journalist oder Philosoph darauf los schreibt, nicht die Schüler?
Ich vermute, dass die Kritik an der Leistungskultur der Schule vor allem dem Unmut der Eltern entspringt. Im Kern sind es eigene Abstiegsängste, die sie auf ihre Kinder projizieren. Sie sind in der Zeit vor der Globalisierung zur Schule gegangen und in den Beruf eingetreten. Zumeist hatten sie sichere Arbeitsplätze, die sie ihr ganzes Leben ausfüllten. Diese Zeit der beruflichen Sicherheit ist vorbei. Heute zählen flexible Biographien, lebenslanges Lernen, ständiges Sich-Neu-Orientieren. Dass dies Eltern mit Ängsten erfüllt, ist nachvollziehbar. Sie wollen ja das Beste für ihre Kinder. Wenn daraus jedoch das Bild von einer Schule entsteht, die Jugendliche knechtet, ist das problematisch.
Eine Emnid-Umfrage vom September 2012 zeigt, wie die Verunsicherung der Eltern ihr Bild von der Schule verändert. Nach ihren Prioritäten für die Bildungspolitik befragt, nannten 84% der Befragten als wichtigstes Lernziel „soziales Verhalten“. An letzter Stelle rangierte mit nur 28% die „Leistung“. Leistung als schulisches Kriterium kann nur jemand ablehnen, der seine eigenen Kinder für überfordert hält. Die Schule als Ort der freundlichen sozialen Begegnung ist dann allemal die bessere Option. Ihren Kindern tun solche Eltern keinen Gefallen. In der Schule Leistung zu verlangen, ist nicht unmenschlich, sondern Ausdruck der Wertschätzung der geistigen Gaben unserer Kinder. Das bestätigen Schüler immer dann, wenn sie im Unterricht über sich hinauswachsen und stolz ihre Lernergebnisse präsentieren. Die Lehrer sollten sich dagegen wehren, dass ständig von außen die Gleichheitsvorstellungen der Sozialpolitik in die Schulen hineingetragen werden. Da Intelligenz nie gleich verteilt sein wird, müssen diese utopischen Sehnsüchte zu Enttäuschungen führen. Daraus speisen sich dann die Hasstiraden gegen die Schule im öffentlichen Diskurs.
Was gelingt in der Schule? Das meiste! PISA und andere Studien belegen es. Rechnet man aus den Ergebnissen der drei PISA-Studien die Anteile der migrantischen Kinder heraus, landen deutsche Schüler auf einem Spitzenplatz. Ausländische Experten (mit Ausnahme der OECD) beneiden uns um unser leistungsfähiges Schulsystem, das noch im letzten Winkel des Landes nach hohen Standards arbeitet. Vor allem das Gymnasium gilt international als Erfolgsmodell. Vielleicht sollte sich der deutsche Selbsthass an den ausländischen Elogen ein Beispiel nehmen.
Was misslingt in der Schule? Die Schulen müssen lernen, noch besser mit den unterschiedlichen Begabungen und im Elternhaus erworbenen Dispositionen umzugehen. Wenn – wie in der Allensbach-Umfrage vom 24. 4. 2013 – 80% der Eltern der Meinung sind, dass vor allem Defizite im Elternhaus für die Misserfolge der Kinder in der Schule verantwortlich sind, ist das ein Alarmzeichen. Hier sind Bildungs- und Erziehungsvereinbarungen zwischen Elternhaus und Schule ein zwingendes Gebot.
Den Kritikern, die alles schlecht reden und das ganze System umstürzen wollen, sei gesagt, dass diese Alles-oder-Nichts-Haltung letztlich den Schülern am wenigsten hilft, weil sie ihnen die kleinen, aber wichtigen Verbesserungen versagt. Schule lässt sich nur pragmatisch und in kleinen Schritten reformieren. Das Motto des Reformpädagogen Hartmut von Hentig sollte dabei den Weg weisen: „Wenn die Ziele groß sind, können die Schritte klein sein.“