Wie unsere Lehrer besser werden können

Alle wichtigen Lernstudien weisen nach, dass der Lernerfolg der Schüler in erster Linie von der Lehrkraft abhängt. Während die Bildungspolitik gerne das Heil in strukturellen Reformen sucht, liegt das größte Potential für Schulqualität in der Verbesserung des Unterrichts.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 6. April 2024

Vor einiger Zeit fand in einer Schule in England ein aufschlussreiches pädagogisches Experiment statt. Zwei bestehende Klassen sollten neu aufgeteilt werden. Dazu wurde ein Test angesetzt. Die guten Schüler sollten in Klasse A, die weniger guten in Klasse B kommen. Dass dies ein pädagogisches Experiment war, wussten nur die beteiligten Wissenschaftler und der Schulleiter. Der Test verlief wie alle anderen Leistungsüberprüfungen auch. Das Ergebnis brachte das übliche Notenbild.  Es gab alle Noten von 1 bis 5. Die Schüler wurden in der Folge nach folgendem Prinzip auf die beiden Klassen verteilt: Die Schüler mit einer ungeraden Ziffer in der Rangordnung kamen in Klasse A, die mit den geraden Ziffern in Klasse B. Die Rahmenbedingungen waren in beiden Klassen gleich, z.B. die Ausstattung der Räume, die Auswahl der Lehrer, die Lernmaterialien.  In beiden Klassen saßen also Kinder mit der gleichen Begabungsmischung. Danach passierte etwas Bemerkenswertes:  In den Köpfen der Beteiligten steckten die klugen Kinder in Klasse A, die weniger Klugen in Klasse B. Die Eltern von Kindern in Klasse A zeigten sich angenehm überrascht, dass ihr Kind so gut abgeschnitten hatte, und sparten nicht mit Lob und Belohnungen. In Klasse B hingegen hielten einige Eltern ihren Kindern vor, sich nicht genügend angestrengt zu haben. Sie entzogen ihnen bestimmte Annehmlichkeiten wie Taschengeld oder technische Geräte. Auch die Lehrer behandelten die Kinder in Klasse B anders, da sie von ihnen nicht besonders viel erwarteten. Die Illusion zweier Klassen mit   unterschiedlich begabten Kindern wurde ein ganzes Schuljahr hindurch aufrechterhalten. Danach wurde abermals ein Test durchgeführt. Das Ergebnis war: Die Kinder der Klasse A zeigten weitaus bessere Leistungen als die Kinder der Klasse B. Die Testergebnisse bestätigten also nicht die Realität der Begabungsmischung, sondern die Zuschreibung von Begabung in den Köpfen der Lehrer und Eltern. Das, was man den Kindern der Klasse B ein ganzes Schuljahr hindurch weisgemacht hatte, ist zuletzt tatsächlich eingetreten: Sie sind jetzt wirklich Kinder der Klasse B geworden. Und sie haben selbst daran mitgewirkt: Weil sie sich selbst für schlechter hielten, wurden sie es auch.

Ermutigung wirkt Wunder

Ermutigung der Schüler durch die Lehrkraft ist eine der stärksten Produktivkräfte im Unterricht. Entmutigung bewirkt nicht nur das Gegenteil, es kann bei den Schülern zu Schulangst, Schulschwänzen und Schulversagen führen. In der Lernstudie des neuseeländischen Pädagogen John Hattie „Lernen sichtbar machen“ (2013) nimmt das Problem von Ermutigung und Entmutigung einen großen Raum ein. Er hält die positive Einstellung des Lehrers zu seinen Schülern für wichtiger als eine hohe Fachkompetenz oder einen technikgestützten Unterricht. In den Worten des Forschers: „Die Wirkfähigkeit der positiven Lehrer-Schüler-Beziehung ist entscheidend dafür, dass Lernen stattfinden kann.“ Um dieses Verhältnis zu testen, stellte Hattie in Schulklassen die lapidare Frage: „Mag euch euer Lehrer?“ – Auffällig war, dass Kinder aus der bildungsbürgerlichen Schicht häufiger mit „Ja“ antworteten als Kinder aus ethnischen Minderheiten oder aus der einheimischen Unterschicht. Hier scheint das stattgefunden haben, was Hattie „Etikettierung“ nennt, die Zuschreibung von Fähigkeiten und die eigene oft unbewusste nonverbale Kommentierung der Etikettierung. Untersuchungen bei Schulschwänzern haben ergeben, dass sie die Schule nicht schwänzen, weil sie leistungsschwach sind und sich deshalb vor ihren Mitschülern schämen, sondern weil sie bestimmte Lehrer nicht mögen. Sie mögen sie deshalb nicht, weil sie sich von ihnen ungerecht behandelt, ja stigmatisiert und ausgegrenzt fühlen.  Umgekehrt kennt man das Phänomen, dass Schüler zu Hause sagen, für den neuen Mathelehrer würden sie die Hausaufgaben auch dann erledigen, wenn sie keinen Spaß machen. Sie machen sie ihm zuliebe, weil sie ihn mögen und deshalb nicht enttäuschen wollen. Sigmund Freud, der große Seelenerkunder, schrieb in seinen Jugenderinnerungen: „Ich weiß nicht, was uns stärker in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäftigung der uns vorgetragenen Wissenschaft oder die mit den Persönlichkeiten unserer Lehrer, und bei vielen führte der Weg zu den Wissenschaften nur über die Person des Lehrers.“ („Zur Psychologie des Gymnasiasten“, 1914)

Positive Verstärkung als Lernstimulans

In dem Spielfilm „Club der toten Dichter“ des australischen Regisseurs Peter Weir lernen wir den Englischlehrer John Keating kennen, der an einem vornehmen Internat   unterrichtet.  Sein Unterricht verblüfft die Schüler schon in der ersten Stunde. Mit unkonventionellen Methoden fordert der Lehrer sie zu selbstständigem Handeln und freiem Denken auf. Da ihm die individuelle Förderung seiner Schüler sehr wichtig ist, ermutigt er sie immer wieder, sich mehr zuzutrauen und ihre Möglichkeiten auszuloten. Selbst die gehemmten Schüler schaffen es allmählich, ihren eigenen Wert zu erkennen und Selbstvertrauen aufzubauen – der Garant für erfolgreiches Lernen. John Keating ist quasi der Prototyp des ermutigenden Lehrers.                                    

Der Effekt der Wirksamkeit von positiver Verstärkung war schon vor Hattie bekannt. Die Bildungsforscher Rosenthal und Jacobsen kamen in ihrem Buch „Pygmalion im Unterricht“ zu dem Ergebnis, dass die Erwartungen des Lehrers starke Einflüsse auf den Erfolg des Lernverhaltens der Lernenden haben. Erwartet er, dass die Kinder den Stoff verstehen, werden sie dies eher erreichen, als wenn er von Anfang an daran zweifelt, weil er die Klasse für wenig leistungsstark hält.

Der Lehrer entscheidet über den Lernprozess

Ob Schüler erfolgreich lernen, bestimmt vor allem der Lehrer. Er hat es in der Hand, den Unterricht so zu gestalten, dass der Lerneffekt groß ist. Er kann aber auch das Gegenteil bewirken. Während in letzter Zeit einige Kultusminister den Lehrer nur noch als „Lernbegleiter“ sehen, der lediglich die Selbstorganisation der Schüler beim offenen Lernen unterstützt, fordert Hattie vom Lehrer, dass er   den Unterricht von A bis Z steuert, weil dies die höchste Wirksamkeit entfaltet. Hattie begreift den Beruf des Lehrers als ein Handwerk, das er beherrschen und professionell ausüben muss. Dem pädagogischen „Handwerker“ stehen dabei viele Stellschrauben zur Verfügung, an denen er drehen kann, um den Output seiner Tätigkeit zu erhöhen. Jede Kleinigkeit ist dabei wichtig, weil auch sie zum Lernerfolg beitragen kann. Wenn es einer Lehrkraft nicht gelingt, eine ruhige Arbeitsatmosphäre herzustellen, rauscht der Lernstoff an den unkonzentrierten Schülern vorbei. Werden die Hausaufgaben in den geräuschvollen Aufbruch der Schüler am Stundenende hinein erteilt, werden die meisten Schüler sie vergessen.  Selbst bei Klausuren und bei Abiturprüfungen hat man schon erlebt, dass die Aufgaben so ungenau gestellt waren, dass die Schüler nur eine vage Vermutung hatten, wie sie die Aufgabe zu lösen hatten. Wenn ein Mathelehrer die Rechenoperationen, die er von seinen Schülern verlangt, an der Tafel nicht anschaulich erklären kann, sind Enttäuschung und Misserfolge bei den Schülern vorprogrammiert. Die Lehrerausbildung muss deshalb vor allem die Handwerkstechnik des Unterrichtens vermitteln. Fest angestellte Lehrkräfte müssten ihre „handwerklichen“ Fähigkeiten häufiger auf den Prüfstand stellen, ihr Knowhow nötigenfalls durch Fortbildungen verbessern. 

Warum Lehrkräfte scheitern

In letzter Zeit kann man immer wieder Erfahrungsberichte von Lehrern lesen, die den Beruf aufgegeben haben. Darunter sind auch Quereinsteiger, die sich von den staatlichen Werbeoffensiven haben verlocken lassen, in den Lehrerberuf zu wechseln. Woran scheitern diese Lehrer? Eine Lehrerin warf schon nach einem Jahr das Handtuch. Ihre Gründe gab sie in einem Interview bekannt: „Viele Kinder sind verhaltensauffällig, gewaltbereit, desinteressiert und kommen ohne Lebenskompass in die Schule.“ Die Lehrerin hatte wohl erwartet, dass sie pflegeleichte, gut erzogene Schüler vor sich haben würde. Ohne erzieherisches Einwirken auf die Klasse geht es heute nicht mehr. Da immer mehr Eltern die Erziehung ihrer Kinder an Kita und Schule delegieren, müssen sich diese Einrichtungen dieser Aufgabe stellen. Oft braucht es ein halbes Jahr hartnäckiger Erziehungsarbeit, bis eine Klasse so funktioniert, dass man störungsfrei unterrichten kann. Wer sich dieser Aufgabe nicht stellt, wird im Lehrerberuf nicht glücklich werden.  „Die Kinder sind unheimlich unruhig, können sich nur kurz konzentrieren, haben eigentlich kein Interesse am Unterrichtsstoff, lenken sich gegenseitig ab und interessieren sich vor allem für den nächsten Streit, damit wieder Action ist.“ So die Beobachtungen der enttäuschten Lehrerin. Gute Lehrer wissen, dass im Lernstoff das spannende Potential verborgen liegt, mit dem man Kinder und Jugendliche fesseln kann. Ich habe in der Ausbildung meiner Referendare viele spannende Unterrichtsstunden gesehen, in denen es den Anfängern gelungen ist, die Schüler aus ihrer Lethargie und Lernunlust herauszureißen. Ein solides Fachwissen, eine kluge Didaktik und ein wenige Talent zum Entertainment sind die Erfolgsfaktoren. „Die Kinder kommen zu spät, haben Hefte, Bücher vergessen oder gleich ganz verloren, Stift fehlt, Ratzefummel auch, gefrühstückt wurde auch nicht, Hausaufgaben sind vergessen oder falsch, jetzt erstmal dreimal im Unterricht aufs Klo, zum Mülleimer, in Ruhe alle Buntstifte anspitzen und ca. fünfmal alles vom Tisch runterfallen lassen.“ Die Lehrerin scheint in einer Schule ohne Regeln gelandet zu sein. In gut geführten Schulen gibt es klare Vorgaben, wie mit Fehlleistungen und Versäumnissen der Schüler umzugehen ist. Da Kinder Rituale schätzen, braucht man nur ein wenig Geduld, bis die Kinder die nötigen Verhaltensnormen verinnerlicht haben. Warum kapituliert eine junge Lehrerin vor solchen Herausforderungen, anstatt das Handwerk des Unterrichtens von Grund auf zu lernen? Leidenschaft für den Lehrberuf scheint sie nicht besessen zu haben.

Feedback:  Wie gut ist der Unterricht wirklich?

Viele Lehrer haben ein zugewandtes, freundschaftliches Verhältnis zu ihren Schülern. Daraus leiten sie – freilich oft zu Unrecht – ab, dass die Schüler bei ihnen auch viel lernen.  Ein gutes Lernklima, Wertschätzung für die Kinder und Zugewandtheit sind notwendige Bedingungen erfolgreichen Unterrichtens. Sie garantieren jedoch für sich allein noch nicht den optimalen Lernerfolg. Der Lehrerberuf kommt der Neigung des Menschen entgegen, sich in Routinen bequem einzurichten. Gerade in der Lehrtätigkeit sind aber falsche Routinen schädlich, weil sich die Lernbedingungen vor allem bei den Schülern ständig ändern. Aufbrechen kann man schädliche Routinen nur, indem man die Selbstreflexion des Lehrers stärkt.  An Schulen, die es den Schülern ermöglichen, den Unterricht ihrer Lehrer zu bewerten, haben sich die Lernergebnisse schon nach zwei Jahren deutlich verbessert. Die Bewertungen der Lehrer durch ihre Schüler sind verlässlich, vertrauenswürdig und aussagekräftig. Es sind keineswegs reine Beliebtheitswettbewerbe, wie die Lehrerverbände unterstellen, weil ihnen der ganze Trend nicht gefällt. Schüler haben ein gutes Gespür dafür, ob sie bei einem Lehrer etwas lernen oder nicht. Die Fragebögen der Lehrerbewertung enthalten dafür die passenden Punkte: die Fähigkeit des Erklärens, vorhandenes Fachwissen, die Wahl effektiver Lernmethoden und das Verhältnis der Lehrkraft zu seinen Schülern. Schulen, die diesen Weg gegangen sind, berichten, dass Schüler bei der Bewertung des eigenen Lernfortschrittes in der Klasse oder im Kurs sehr treffende Urteile fällen.  Sie können vor allem beurteilen, ob sie die Lernfortschritte primär den guten Unterrichtsmethoden der Lehrkraft oder in erster Linie eigenen Anstrengungen verdanken.

„Wir lassen keine(n) zurück!“

Schüler sind den Lehrern dankbar, wenn sie sich darum kümmern, wenn sie in einzelnen Fächern ins Hintertreffen geraten. Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich beschlossen, eine uns anvertraute 7.  Klasse (in Berlin ist dies die Eingangsklasse im Gymnasium) so zu unterstützen, dass die ganze Mittelstufe hindurch kein einziger Schüler sitzen bleibt. Unser Motto hieß: „Wir lassen keine(n) zurück! Jede(r) kann es schaffen!“ – Wir initiierten ein Patenschafts-Modell. Jedem Schüler wurde in seinem schlechten Fach ein guter Schüler aus der Klasse als Lernpate zur Seite gestellt.  Er unterstützte ihn bei den Hausaufgaben, lernte mit ihm gemeinsam auf Tests und Klassenarbeiten.  Reichte die Hilfe durch Mitschüler nicht aus, nahmen wir Kontakt zu den jeweiligen Fachlehrern auf, um sie für weitere Unterstützungsmaßnahmen zu gewinnen. Der Erfolg blieb nicht aus:  Vier Jahre lang blieb kein einziger Schüler der Klasse sitzen.  Quantitativ bestraften wir uns selbst, weil am Ende jedes Schuljahres „von oben“ Sitzenbleiber in unsere Klasse kamen. Zum Schluss saßen 36 Schüler in der Klasse.  Qualitativ hat dieses Modell jedoch die Klasse enorm gestärkt. Der Zusammenhalt und das Selbstbewusstsein waren nach vier Jahren ungleich stärker entwickelt als in den Parallelklassen.  Aus einer Ansammlung von Einzelkämpfern war eine echte Klassengemeinschaft entstanden.  Damit haben wir – ohne es zu wissen – ein wichtiges Merkmal erfolgreichen Lernens in der Hattie-Rangfolge erfüllt. Er siedelt den „Klassenzusammenhalt, das Gefühl, dass alle (Lehrperson und Lernende) gemeinsam für positive Lernerfolge arbeiten“, recht hoch an (Faktor 39 von 138). 

Keine weiteren Strukturreformen – den Unterricht verbessern!

In Deutschland haben Bildungspolitiker seit jeher ein großes Faible für die Erfindung neuer schulischer Strukturen. An der Organisationsschraube zu drehen ist für Nicht-Experten, wie es Politiker oftmals sind, allemal leichter, als sich auf die komplexen Abläufe im Unterricht einzulassen, um dort Verbesserungen zu erzielen. Wissenschaftler warnen immer wieder, politisches Handeln bleibe wirkungslos, wenn es nur auf die Schulorganisation abzielt. Das Kerngeschäft der Schule, der Unterrichtsprozess, bleibe davon nämlich unbeeinflusst. Bessere Lernergebnisse bei den Schülern lassen sich nur erzielen, wenn man den konkreten Unterricht verbessert. Wenn die „neuen“ Organisationsformen nach rein ideologischen Vorgaben gewählt werden, können sich die Lernergebnisse der Schüler sogar verschlechtern. Ein Beispiel dafür ist die Schulreform von 2010/2011 in Berlin.

Schulreform mit zweifelhaftem Ergebnis

Ab dem Schuljahr 2010/2011 gibt es in Berlin nur noch zwei weiterführende Schularten: das Gymnasium und die Integrierte Sekundarschule. Letztere entstand durch die Fusion aus Haupt- und Realschule. Die Ziele der damaligen von der SPD geführten Bildungsverwaltung klangen verheißungsvoll: Es gehe um die „bestmögliche Förderung der Schüler und Schülerinnen entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen, um den für sie bestmöglichen Schulabschluss zu erreichen – unabhängig von ihren familiären und sozialen Voraussetzungen“. Die Warnungen des Deutschen Lehrerverbandes, der auch Haupt- und Realschullehrer vertritt, die Reform zerstöre gewachsene und funktionierende Schulkulturen, wurden von der Politik in den Wind geschlagen. Da für die diversen Klassen der Sekundarschulen kein Differenzierungsmodell vorgeschrieben wurde, wählten die meisten Schulen die Binnendifferenzierung. Das Erfolgsmodell der Gesamtschule, die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch in leistungsgerechten Kursen und nicht im Klassenverband zu unterrichten, kam unter die Räder. Nur einige wenige Gesamtschulen hielten auch unter dem neuen Label Sekundarschule an dem bewährten Modell fest. Schon nach wenigen Schuljahren waren die Ergebnisse der Reform zu besichtigen: Beim Mittleren Schulabschluss schnitten die neuen Sekundarschulen schlechter ab als die ehemaligen Gesamtschulen und Realschulen. Das Versagen der Diversitätsdidaktik – zentrale Ursache für die Misserfolge deutscher Schüler bei PISA 2022 – setzte in Berlin mit der Schulreform 2010/2011 ein. Das politische Versprechen, die Schüler zu besseren Lernergebnissen zu führen, hat sich ins Gegenteil verkehrt: Die Preisgabe des begabungsgerechten Lernens hat die Lernergebnisse der Schüler massiv verschlechtert. Seit der umstrittenen Schulreform belegen Berlins Schüler im Ranking der Bundesländer den letzten Platz.

Eine Kultur des Feedbacks etablieren

Als Lehrer habe ich ein pädagogisches „Gesetz“ gelernt: Die größten Unterschiede im Lernzuwachs der Schüler gibt es nicht zwischen Schulen und Schulformen, sondern zwischen einzelnen Klassen. Jeder Schulleiter weiß aus eigener Erfahrung, dass im Englisch- oder Matheunterricht der Lernvorsprung zwischen einem gut und einem nachlässig geführten Unterricht bis zu einem halben Schuljahr betragen kann. In den künstlerischen Fächern, die ihre Ergebnisse oft der Schulöffentlichkeit präsentieren, sind die unterschiedlichen Qualitäten der Lehrkräfte mit Händen zu greifen. Wenn man dies weiß, kann es nur einen Weg aus der Schulmisere geben: die Lehrer müssen so ertüchtigt werden, dass sie den bestmöglichen Unterricht abliefern können. Dabei sind Methoden der Selbst- und Fremdevaluation äußerst hilfreich. Die Kultur des Feedbacks hat den Lernprozess an den Schulen revolutioniert. Die Lehrer, die sich diesem Trend verweigern, werden in den Lehrerkollegien bald ins Hintertreffen geraten. Die Lehrkräfte, die sich die Verbesserung des Unterrichts auf die Fahnen geschrieben haben, sollten sich künftig bei der Ausübung ihres Handwerks nicht von sachfremden, politisch motivierten Zumutungen beirren lassen.  Ein wenig mehr Handwerkerstolz könnte nicht schaden.

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Vom Elend der historischen Bildung

Schüler offenbaren große historische Wissenslücken. Politiker verbiegen die Geschichte, wenn es aus politischen Gründen opportun erscheint. Deutschland braucht einen Geschichtsunterricht, welcher der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. Er sollte auch die demokratische Identität der Nation stärken.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 3. März 2024

Am einem 31. Oktober fragte ich die Schüler meines Geschichtskurses in der Gymnasialen Oberstufe eines Berliner Gymnasiums, ob sie wüssten, welchen Tag wir heute feierten. „Halloween“ schallte es mir vielstimmig entgegen. An meiner Miene, die sich verfinsterte, sahen die Schüler, dass ihre Antwort nicht optimal ausgefallen war. Nach einigem Hin und Her fand schließlich eine Schülerin, die in einer evangelischen Gemeinde aktiv war, die richtige Antwort: Es war der Reformationstag. Was Luther damals wollte und worin seine bleibende geschichtliche Leistung besteht, wussten die Schüler spontan nicht zu sagen. Im Geschichtsunterricht war das sicher irgendwann einmal „dran gewesen“. Nur hängen geblieben ist nichts. So sieht es auch mit anderen wichtigen historischen Ereignissen aus. Kaum ein Schüler weiß etwas über die wichtigsten römischen Kaiser der Deutschen im Mittelalter zu sagen, die Fragen nach den demokratischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert, nach Wartburgfest, Hambacher Fest und Paulskirche, bleiben ohne Antwort. Selbst Ereignisse, die ihre Eltern oder Großeltern noch selbst erlebt haben, wie der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR oder der Mauerfall 1989, sind im Gedächtnis der Schüler nicht präsent.

Turnvater Jahn entsorgt

Szenenwechsel: Im Frühjahr 2015 wurde die Turnvater-Jahn-Grundschule in Berlin-Prenzlauer Berg umgetauft. Der Name des Begründers des Massensports in Deutschland, Friedrich Ludwig Jahn, war als Namenspatron nicht mehr gefragt.  Stattdessen erhielt die Grundschule den Namen des Bierbrauers Bötzow. Was war passiert?  Einige Eltern und Lehrer hatten an Jahns Gesinnung Anstoß genommen. Der Turnvater sei als Namenspatron in der heutigen Zeit nur noch „schwer vermittelbar“, weil er „nationalistisch“ gewesen sei und „gegen die ethnische Vermischung des Volkes“ agitiert habe. Solche Haltungen findet man bei so gut wie allen Geistesgrößen vergangener Jahrhunderte. Wer erinnert sich nicht an den fanatischen Judenhass von Martin Luther. Friedrich Ludwig Jahn „Nationalismus“ vorzuwerfen, ist Ausdruck eines erschreckenden Unwissens um die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Für die einheitliche deutsche Nation einzutreten, war im Deutschen Bund mit seinen 39 Einzelstaaten durchaus fortschrittlich, ein linkes Projekt, zumal das nationale Streben mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung einherging. Mit derselben Berechtigung könnte man die Heinrich-Heine-Schulen umtaufen, weil Heine ebenfalls ein glühender Verfechter der nationalen Einheit Deutschlands war. Jahns Kampf um Freiheitsrechte brachte ihm immerhin sechs Jahre Kerkerhaft ein und danach 15 Jahre Polizeiaufsicht. Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn gebildete Menschen historische Persönlichkeiten nicht mehr aus ihrer Zeit heraus verstehen können, sondern unhistorisch aus heutiger Sicht die Messlatte der politischen Korrektheit anlegen.

Sozialdemokratischer Altkanzler im Putin-Sprech

Im Mai 2015 bestritt der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) in einem Zeitungsinterview, „dass es ein Volk der Ukrainer, eine nationale Identität“ gebe. Drei Monate zuvor hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim militärisch besetzt und später durch ein Scheinreferendum der Russischen Föderation einverleibt. Historiker mit osteuropäischer Expertise warfen dem Alt-Kanzler Unkenntnis der ukrainischen Geschichte vor. In den Turbulenzen der Oktoberrevolution 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik aus den ukrainischen Gebieten, die bis dahin zum Russischen Kaiserreich gehört hatten, gegründet. Im russischen Bürgerkrieg eroberten die Bolschewiki Kiew und lösten den selbständigen ukrainischen Staat auf. Er wurde als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion eingegliedert.  Weil Lenin nationalistische Aufstände befürchtete, gab er der Ukraine den Status einer eigenen Sowjetrepublik. Bei der Gründung der Vereinten Nationen 1946 wurde die Ukraine auf Betreiben Stalins sogar als eigener Staat aufgenommen. Als die Sowjetunion 1990 zerfiel, erklärte die Ukrainische Volksrepublik ihre Selbständigkeit. 1991 bestätigten 90 Prozent der Ukrainer bei einer Volksabstimmung den Status als unabhängige Nation. Schmidts Leugnung historischer Fakten ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst demokratische Politiker versucht sind, wegen aktueller Opportunitäten die Geschichte zu verfälschen. Schmidt wollte die Ostpolitik Willy Brandts verteidigen, der bei seinen Verhandlungen mit der Sowjetunion auch keine Rücksicht auf die Interessen der kleinen Staaten an der östlichen Peripherie Europas genommen hatte. Die Ukraine und Belarus kamen im Weltbild der Sozialdemokratie nicht vor, weil sie sich bei ihrer Ostpolitik immer nur mit Sowjet-Russland ins Benehmen setzte.

Die Sowjetunion und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Seit der Entspannungspolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren gilt die SPD als die deutsche Partei mit einem besonderen Verhältnis zu Russland. Manche Historiker sprechen von einer irrationalen Russlandliebe. In den zahlreichen Reden, die deutsche Sozialdemokraten – allen voran Frank-Walter Steinmeier – auf die deutsch-russische Freundschaft hielten, ließen sie ein Faktum stets außer Acht, das man in den Geschichtsbüchern leicht finden kann: Die Sowjetunion war über den Hitler-Stalin-Pakt von August 1939 an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs militärisch beteiligt. Das geheime Zusatzprotokoll des Vertrags sah nämlich vor, dass die kleineren Staaten zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich in Einflusszonen aufgeteilt werden. Als Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel, wartete Stalin noch 17 Tage, bis er seinerseits mit der Roten Armee von Osten her in Polen einmarschierte. An der Demarkationslinie der eroberten Gebiete feierten Wehrmacht und Rote Armee den gemeinsam errungenen Sieg. Dieses Faktum wird in der russischen Geschichtsschreibung bis heute schamhaft verschwiegen. Wenn es westliche Historiker zur Sprache bringen, wird es von Russland bestritten. Das ist zwar töricht, weil die Dokumente jederzeit einsehbar sind. Die Geschichtslüge ist aber notwendig, um die Legende von der Friedensmacht Sowjetunion aufrechterhalten zu können. Als indirektes Eingeständnis der Beteiligung am Kriegsausbruch kann man deuten, dass in der russischen Geschichtsschreibung der Große Vaterländische Krieg erst mit dem Jahr 1941 beginnt. Die SPD hat in Bezug auf die Verstrickung der SU in den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine merkwürdige Haltung eingenommen. Als gäbe es ein Schweigegebot, wird der 17. September 1939, ein Datum, das in Polen jedes Schulkind kennt, in Reden niemals erwähnt. Der Grund ist einfach. Die ganze Aussöhnungspolitik der SPD gegenüber Russland wäre beschädigt, wenn sie auch einem Aggressor gelten würde. Es rächt sich, dass die SPD ihre Russlandpolitik bis heute nicht schonungslos aufgearbeitet hat. Dass in der Mitte Berlins am sowjetischen Ehrenmal zwei russische Panzer vom Typ T-34 und T-76 stehen, hat, wenn man die Aggressionsgeschichte Russlands kennt, einen makabren Beigeschmack. Mit diesen Panzern hat die Rote Armee Polen und Finnland überfallen, sie werden heute auch noch im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt. Im sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park gibt es die Inschrift: „Im Juni 1941 überfiel Hitlerdeutschland wortbrüchig unser Land in brutaler und niederträchtiger Weise“. Historisch getreu müsste in den sowjetischen Gedenkstätten zugleich daran erinnert werden, dass sich Stalins Sowjetunion an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beteiligte: Am 17. September 1939 überfiel die Rote Armee Polen, am 30. November 1939 überfiel sie Finnland.

Christliches Kreuz abgehängt

Beim Außenministertreffen der G7-Staaten im November 2022 in Münster hängten die Beamten der grünen Außenministerin Annalena Baerbock im Friedenssaal des Rathauses das Ratskreuz ab, weil sie den Teilnehmern, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen, nicht zumuten wollten, unter dem Kreuz zu tagen. Im Friedenssaal wurde 1648 der Friedensvertrag unterzeichnet, der dem 30-jährigen Gemetzel des Glaubenskrieges ein Ende setzte. Historiker bewerten den Westfälischen Frieden als historischen Beitrag zu einer   europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten.  Der Vertrag habe eine Entwicklung in Gang gesetzt, die zur Herausbildung des modernen Völkerrechts geführt habe. Der ausgerufene Religionsfriede sah zudem vor, dass die christlichen Stände beider Konfessionen künftig auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele verzichten. Die Trennung von Staat und Religion, die zu unserer heutigen Staatsverfassung gehört, wurde damals auf den Weg gebracht.  Es ist geschichtsvergessen zu leugnen, dass der Westfälische Frieden unter dem christlichen Kreuz geschlossen wurde. Es gemahnt die Nachfahren bis heute, den kostbaren Frieden zu bewahren.  „Das christliche Kreuz ist ein Zeichen der Versöhnung“, unterstrich der Münsteraner Oberbürgermeister Marcus Lewe, der damals auf die Entfernung des Kreuzes mit Unverständnis reagierte. Eine Pointe des Kreuz-Streites von Münster liegt darin, dass die beiden christlichen Konfessionen mit ihrem Gewaltverzicht schon im 17. Jahrhundert einen Schritt getan haben, auf den wir beim Islam immer noch warten. In den meisten islamischen Staaten gilt der Islam als Staatsreligion, was eine Trennung von Staat und Gesellschaft unmöglich macht.

Bismarck gecancelt

Im Außenministerium ließ Baerbock das Bismarck-Zimmer in „Saal der Deutschen Einheit“ umbenennen. Auch das Portrait des Kanzlers des (zweiten) Deutschen Reichs wurde abgehängt. Die Umbenennung trage „der Tatsache Rechnung, dass das Auswärtige Amt seine Traditionslinie maßgeblich in der demokratischen Geschichte Deutschlands verankert sieht.“ Ohne Geschichtsvergessenheit geht es bei der grünen Außenministerin nicht ab. Bismarck hat nicht nur die deutsche Einheit 1870/71 bewirkt. Er ist auch der Schöpfer der modernen Sozialgesetzgebung. Durch seine Bündnispolitik hat er Deutschland in Europa so verortet, dass es maximal abgesichert war. Eine so einseitige Abhängigkeit von einer Macht, wie es die BRD vom Energielieferanten Russland war, hätte er nie zugelassen. Das Deutsche Reich geriet erst auf die schiefe Bahn, als Bismarck von Kaiser Wilhelm II. entlassen wurde. Danach bestimmten Imponiergehabe und die Fahrlässigkeit eines Dilettanten die Außenpolitik. Vielleicht liegt Baerbocks Aversion gegenüber Bismarck darin, dass seine Außenpolitik strikte Interessenpolitik war, während die grüne Außenministerin einer „feministischen Außenpolitik“ den Vorzug gibt.

Identitätspolitik verhindert historische Einsichten

Woher kommen solche Anflüge von Geschichtsvergessenheit? Die Parteien des linken Spektrums sind beeinflusst von der Identitätspolitik, die in den letzten Jahren den Weg aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gefunden hat. Deren zentrale These besagt, dass es in den Gesellschaften der demokratischen Staaten einen „strukturellen Rassismus“ gebe, der dazu diene, die kulturelle Hegemonie der weißen, patriarchalen Eliten aufrechtzuerhalten. Um die weiße Dominanz zu brechen, sei es legitim, die Opfergruppen gegenüber dem Mainstream der Gesellschaft zu bevorzugen. Die Identitätspolitik macht auch vor historischen Persönlichkeiten nicht halt. Sie sollen aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, ihre Denkmale aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Die Apologeten des Cancel Culture legen an Herrscher vergangener Zeiten die Messlatte heutiger Moral an, womit sie mit dem zentralen Axiom der Geschichtswissenschaft brechen, wonach man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus der Zeit heraus verstehen kann.

Gefährdung unserer Erinnerungskultur

Rechtsextremisten bekämpften immer schon das in Deutschland gepflegte Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten, vor allem an die Millionen Juden, die im Holocaust fabrikmäßig ermordet wurden. Sie sprechen von einem „irren Schuld-Kult“, dem die Deutschen in masochistischer Manier verfallen seien. Sie möchten stattdessen die Glanztaten der Deutschen, gerne auch die Heldengeschichten aus ihren Kriegen, ins Zentrum rücken, um den Heranwachsenden Stolz auf ihr Deutschsein einzuimpfen. Die Turbulenzen nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die sich in Deutschland entluden, haben gezeigt, dass es in unserem Land noch weitere Gegner unserer Erinnerungskultur gibt: radikale Muslime und Linksextremisten. Islamisten bekämpfen das Holocaust-Gedenken, weil der Holocaust für die Deutschen eine wichtige Begründung für die Existenz des Staates Israel darstellt. Linksextremisten demonstrieren mit der Parole „Free Palestine from German Guilt“. Die Palästinenser sollen – so die Logik der Losung – nicht durch die deutsche Schuld am Holocaust in ihrem „gerechten Befreiungskampf“ behindert werden. Untermauert wird diese Forderung durch die Theorie des Postkolonialismus, der zufolge der Staat Israel mit seiner Gründung den Status als Opfer verloren habe und als „Kolonialstaat“ selbst zum Unterdrücker geworden sei. Der Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023 wird zum Widerstandsakt einer unterdrückten Gesellschaft gegen eine weiße Kolonialmacht verklärt. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist bei jungen Menschen, die sich dem linken politischen Spektrum zuordnen, beliebt, weil sie psychische Entlastung bietet für die Verstrickung der Großeltern in das Menschheitsverbrechen der Shoa. Dass AfD-Politiker ähnliche Parolen verkünden („Schluss mit dem Schuld-Kult“), stört die linken Intellektuellen nicht.

Antisemitismus resultiert auch aus Unwissen

Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat in Deutschland viele Muslime zu Freudenbekundungen veranlasst. Im Politik- und Geschichtsunterricht sahen sich Lehrkräfte einer massiven Stimmungsmache arabischer und türkischer Schüler gegenüber, die das Massaker an Zivilisten als „Notwehr“ bezeichneten und Israel als „Kindermörderland“ verunglimpften. Dass Lehrer bei der Besprechung des Nahostkonflikts so sehr in die Defensive geraten sind, hat auch etwas damit zu tun, dass in der öffentlichen Meinung und in Schulbüchern eine merkwürdige Äquidistanz zu Israel und den Palästinensern herrscht, die sich um die historischen Tatsachen herumdrückt. In keinem Geschichtsbuch wird unmissverständlich dargestellt, dass die Palästinenser ihr Schicksal selbst verschuldet haben, indem sie den ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugestandenen Staat abgelehnt haben. Stattdessen überfielen die Armeen Jordaniens, Syriens, des Irak, Ägyptens und Jordaniens den frisch gegründeten Staat Israel, um ihn – wie die arabischen Herrscher offen zugaben – von der Landkarte zu vertilgen. Da Israel den Unabhängigkeitskrieg gewann, versuchten es die arabischen Staaten noch weitere Male: im Suezkrieg 1956, im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973. Bis heute haben die palästinensischen Führer das Existenzrecht Israels nicht anerkannt, bis heute träumen sie davon, „alle Juden ins Meer zu treiben“, wie es der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser 1967 formulierte. Wenn Deutschland immer wieder betont, Israels Existenzrecht gehöre zur deutschen Staatsräson, muss sich dieses Bekenntnis auch darin niederschlagen, dass wir in den Schulen und Hochschulen viel entschiedener als bisher über die historischen Tatsachen aufklären. Nur so können wir den Geschichtslügen der palästinensischen Führer, die alle keine Demokraten sind, entgegentreten.

Geschichtsunterricht in der Krise

Dass der Geschichtsunterricht in der Krise ist, lässt sich an den vielen Reformversuchen ablesen, die dieses wichtige Schulfach in den letzten Jahren hat über sich ergehen lassen müssen. Als zu Beginn der 2000er Jahre die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts eingeführt wurde, zeigte sich bald, dass dieses Fach, das wie kein anderes auf die Vermittlung von Faktenwissen angewiesen ist, unter dem Vorrang der Kompetenzen besonders litt. Viele Geschichtslehrer hielten die didaktischen Vorgaben für verfehlt und unterliefen sie in der Praxis.  Fragwürdig ist auch die Mode, in der Unterstufe der weiterführenden Schulen Geschichte nur noch im Verbund mit den benachbarten Fächern Sozialkunde (Politik) und Geografie zu unterrichten. Das neue Label heißt „Gesellschaftswissenschaften“. Eine Folge ist, dass Geschichte als das schwierigste der drei Fächer unter dem Zusammenschluss besonders leidet, zumal es oft von fachfremden Lehrkräften unterrichtet wird. Einen Sturm der Entrüstung unter den Geschichtslehrern rief die Entscheidung der Berliner Schulverwaltung hervor, im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I das chronologisch-genetische Strukturierungsprinzip zugunsten von thematischen Längsschnitten aufzugeben. Die Längsschnitte sollten von heutigen, lebensweltlich wichtigen Fragestellungen ausgehen. Kritiker sahen die Gefahr darin, dass bei einem solchen Ansatz erst gar nicht versucht werde, geschichtliche Epochen aus sich selbst heraus zu verstehen. Ich habe nach diesem Prinzip die Themen „Migration“ und „Armut und Reichtum“ unterrichtet und feststellen müssen, dass das von den Schulbuchverlagen angebotene Material dem Übel Vorschub leistet, historische Ereignisse mit der Elle heutiger Moral zu messen, was zu absurden Kurzschlüssen führt: Bettelmönche waren nicht deshalb arm, weil es im Mittelalter das Bürgergeld noch nicht gab, sondern weil sie diese Lebensform freiwillig gewählt hatten, um frei von weltlichen Gütern Gott näher zu sein. Mittelalterliche Lebensformen kann man nur verstehen, wenn man sich auf eine intensive Beschäftigung mit der damaligen Gesellschaft einlässt. Der Unterricht in Längsschnitten lässt eine solche Intensität gar nicht zu.

Nötig ist eine nationale Geschichtserzählung

Alle aktuellen Lehrpläne vermeiden die Entscheidung, ob der Geschichtsunterricht einen Kanon von Wissensbeständen vermitteln soll, der für Heranwachsende unverzichtbar ist. Die politischen Eliten unseres Landes schrecken davor zurück, eine nationale Geschichtserzählung zu etablieren, wie sie in anderen Ländern selbstverständlich ist. Zu groß ist die Angst, das Narrativ könnte ins Nationalistische abgleiten und die bösen Geister der Vergangenheit heraufbeschwören. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung hält hier sich vornehm zurück, obwohl die Vermittlung historischen Wissens zu ihrem Bildungsauftrag gehört, der vor allem darin besteht, das demokratische Bewusstsein zu festigen. Eine patriotische Einstellung der Deutschen ist auch 79 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nach Holocaust und Krieg, noch keinesfalls selbstverständlich. Nur im Sport gönnen wir uns eine kurzfristige patriotische Aufwallung, die nach dem Ende des Ereignisses schnell wieder verfliegt und einer affektiven Nüchternheit Platz macht. Schwarz-rot-goldene Perücken und Fähnchen am Auto statt patriotischer Haltung.

Verfassungspatriotismus als identifikatorische Magerkost

Gerne wird darauf verwiesen, dass das von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas entwickelte Konzept des Verfassungspatriotismus´ ausreiche, um Deutsche und Zuwanderer mit unserem Gemeinwesen zu versöhnen. Der erste Artikel des Grundgesetzes ist zwar eine Perle, vor allem auch in seiner sprachlichen Prägnanz („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), zur Identifikation mit einem Staatswesen tragen jedoch vor allem Narrative bei, die man emotional besetzen kann. Autoritäre Staaten dieser Welt wissen um die Wirkung „nationaler Erzählungen“ und nutzen sie intensiv zur Indoktrination ihrer Völker. Sie scheuen auch vor Geschichtsklitterung oder vor offenem Revisionismus nicht zurück, wie das Beispiel Russlands lehrt. Einer Demokratie wäre ein solches Verfahren natürlich unwürdig. Einen aufgeklärten Patriotismus hingegen könnte unser Land gerade dann, wenn es in seiner Zusammensetzung immer heterogener wird, gut vertragen. Angesichts der vielen Fremden, die in unser Land kommen, weil sie es schätzen, könnten wir uns guten Gewissens von der bei vielen kritischen Geistern verbreiteten „negativen Identifikation“ mit Deutschland, die der Philosoph Hermann Lübbe „Sündenstolz“ genannt hat, verabschieden und zu einer positiven Identifikation finden. Abiturientinnen, die als Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe tätig waren, erzählten mir, dass sie während der Willkommenskultur zum ersten Mal erlebt hätten, wie es sich anfühlt, „stolz auf unser Land zu sein.“ Echter Patriotismus verträgt sich immer mit einer weltbürgerlichen Gesinnung. J. W. v. Goethe schuf das Wort „Weltliteratur“. Als Kosmopolit war er stets offen für andere Kulturen, er lernte mehrere Sprachen und öffnete sich in seinem Lyrik-Zyklus „Divan“ der damals fremden orientalischen Kultur. Gleichzeitig war er tief verwurzelt in der Geschichte deutscher Sprache und Kultur.

Stationen der demokratischen Entwicklung als Orientierung

Welche Geschichtserzählung wäre in unseren Schulen angebracht? In einer Zeit, in der die Demokratie immer aggressiver von autokratischen Herrschern und diktatorischen Staaten herausgefordert wird, böte es sich an, die Ereignisse unserer Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken, die die demokratische Identität unserer Nation begründeten. Jeder Schüler, der die Schule verlässt, sollte wissen, was sich 1813, 1817, 1832, 1848, 1918, 1944, 1948, 1953 und 1989 ereignet hat. Ein Geschichtsunterricht der Beliebigkeit und der vordergründigen Aktualisierung wird dazu führen, dass das geschichtliche Bewusstsein der Schüler noch weiter verkümmert. Ein guter Geschichtsunterricht ist aber ein wichtiger Beitrag zur Festigung unserer Demokratie.  Von dem US-amerikanischen Philosophen spanischer Herkunft George Santayana (1863-1952) stammt der Satz „Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“. In Zukunft werden Schüler die Schule verlassen, denen ein fragwürdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass für ihr Leben vorenthält. Man kann nur hoffen, dass ihnen ähnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen vor uns erspart bleiben.

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Was gegen die Schulmisere wirklich hilft

In der PISA-Studie 2022 haben deutsche Schüler so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor. In Mathematik hinken sie den Schülern des Siegerlandes Japan ein ganzes Schuljahr hinterher. Das desaströse Ergebnis bietet aber auch Chancen. Bildungspolitiker haben jetzt keine Ausreden mehr, sich um wirksame Reformen herumzudrücken.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 11. Februar 2024

Was Schulexperten insgeheim erwartet hatten, trat am 6. Dezember 2023 ein: Die PISA-Studie 2022 enthüllt für die deutschen Schüler niederschmetternde Resultate. In Mathematik vergrößerte sich der Anteil der 15-Jährigen, die nur die unterste von sechs Kompetenzstufen erreichen, auf 30 Prozent. Diese Schüler versagen dabei, den Wert einer Währung in den einer anderen Währung umzurechnen. Über diese Schülergruppe schreibt die Studie: „Schüler der leistungsschwachen Gruppe laufen Gefahr, aufgrund ihrer unzureichenden Mathematik-kompetenz an der gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigt zu sein.“ Auf Deutsch: Diese Schüler finden sich überall dort, wo im Alltag gerechnet werden muss, nicht zurecht. Im Lesen verstehen 26 Prozent der Schüler den Sinn eines mittelschweren Textes nicht. Im naturwissenschaftlichen Teil des Tests können 23 Prozent nicht erklären, warum es auf der Erde Tag und Nacht gibt. Das Siegerland in Mathematik, Japan, ist Deutschland weit enteilt. Zwischen den Leistungen japanischer und deutscher Schüler klafft ein Abstand von einem ganzen Schuljahr.

Ausreden verstellen den Blick auf die wahren Ursachen

Bildungspolitiker waren mit Erklärungen für das Desaster schnell zur Hand. Die schlechten Ergebnisse der deutschen Schüler seien der Corona-Pandemie geschuldet, weil damals die Schulen wochenlang geschlossen waren. Dumm nur, dass die Studie ausdrücklich erwähnt, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen Ländern mit kurzer und langer Schließzeit der Schulen gibt. PISA-Kenner wissen zudem, dass die Leistungen der deutschen Schüler schon seit den PISA-Studien von 2012, 2015 und 2018 kontinuierlich schlechter geworden sind. Auch alle deutschlandinternen Schulleistungstests belegen diesen Abwärtstrend. Es gibt auch jetzt wieder Bildungspolitiker, die das Allheilmittel deutscher Politik – mehr Geld – ins Spiel bringen, um das Blatt zu wenden. Auch dieser Vorschlag ist verfehlt. Deutschland liegt nämlich im Verbund der OECD-Länder bei den Ausgaben für Bildung im Verhältnis zum BIP im Mittelfeld. Berlin gibt von allen Bundesländern für Bildung am meisten Geld aus, seine Schüler schneiden aber am schlechtesten ab. Das Geld-Argument wird gerne dann vorgebracht, wenn man sich um unbequeme Wahrheiten herumdrücken will.

Diversität im Unterricht beeinträchtigt die Lernerfolge

Eine unangenehme Wahrheit benennt die PISA-Studie unverblümt: Die schlechten Leistungen deutscher Schüler liegen an der größer gewordenen Heterogenität der Schülerschaft. Und: Kinder mit Migrationsgeschichte schneiden deutlich schlechter ab als ihre deutschen Mitschüler. Was jedem Lehrer schon lange klar ist, findet jetzt Eingang in ein offizielles Dokument. Unter Lehrern gilt die Faustregel, dass sich die Leistungen einer Schulklasse verschlechtern, wenn der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund auf über 25 Prozent ansteigt. Wenn er gar die 50-Prozent-Marke übersteigt, wie es in vielen Grundschulen und Sekundarschulen unserer Großstädte der Fall ist, verschlechtern sich die Leistungen der ganzen Klasse signifikant. Die Ursache für den Leistungsabfall wird in der PISA-Studie klar benannt: Nur die Schüler können leistungsmäßig mithalten, die die deutsche Sprache – Unterrichtssprache in allen Fächern – perfekt beherrschen. Tun sie das nicht, kommt ein fataler Kreislauf in Gang: Sie verstehen den Lernstoff nicht und schneiden deshalb bei Klassenarbeiten und Tests schlecht ab. Das führt zu Enttäuschungen, die sich in einer feindseligen Haltung gegenüber Lehrern, Mitschülern und der Schule insgesamt äußern können. Befragungen von Schwänzern haben ergeben, dass sie der Schule fernblieben, weil sie sich wegen schlechter Noten gegenüber ihren Klassenkameraden schämten. Da sie keinen Weg fanden, ihre Leistungen zu verbessern, zogen sie es vor, sich dem System Schule ganz zu entziehen. Aus Schwänzern werden, wie man weiß, irgendwann Schulabbrecher.

Migration seit 2015 verstärkt die Bildungsdefizite

Der Leistungsabfall deutscher Schüler bei den letzten PISA-Studien lässt vermuten, dass er mit dem Flüchtlingszuzug der Jahre 2015/2016 zu tun hat. Hundertausende Menschen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und aus Afghanistan zogen nach Deutschland. Darunter waren auch viele Minderjährige, die schulpflichtig waren. Für sie wurden in aller Eile Auffangklassen geschaffen, die dazu dienten, ihnen die deutsche Sprache zu vermitteln und sie an den Regelunterricht heranzuführen. Wegen des großen Mangels an speziell für den Spracherwerb ausgebildeten Fachkräften wurden viele Schüler vorschnell in den Fachunterricht integriert, mit negativen Folgen für alle Schüler. Von den neu aufgenommenen Schülern stammten viele aus Syrien, Irak und Afghanistan. Diese Länder haben noch nie an einer PISA-Studie teilgenommen. Man kann also unterstellen, dass der Bildungsgrad der Zugewanderten auf der untersten Stufe anzusiedeln ist. In Afghanistan kann von den unter 24-Jährigen nur die Hälfte lesen und schreiben. Da die Eltern der eingereisten Kinder oft Analphabeten waren, legten sie keinen besonderen Wert darauf, dass ihre Kinder diese Kulturtechniken erlernen. In patriarchalisch geprägten Familien sollen Kinder ihre Väter nämlich nicht überragen. Hinzu kommt, dass in muslimischen Herkunftsländern ein großer Teil der schulischen Bildung der religiösen Erziehung vorbehalten ist. Wenn eine erhebliche Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit dieser kulturellen Prägung eine deutsche Schule besucht, führt das zu Friktionen, die mit herkömmlichen Mitteln der Pädagogik nur schwer zu meistern sind. Neben der fachlichen Bildung bedürfte es noch einer kulturellen Sozialisation.

Sprachförderung ist das A und O

Die Situation ließe sich verbessern, wenn der schon so oft von Politikern wiederholte Grundsatz endlich konsequent eingelöst würde: Es darf kein Kind eingeschult werden, das die deutsche Sprache nicht beherrscht. Um dies sicherzustellen, müssen in den Bundesländern, die die Vorschule abgeschafft haben (das sind alle bis auf Hamburg), die Kindertagesstätten so ertüchtigt werden, dass sie bei Schülern mit Förderbedarf den Spracherwerb sicherstellen können. Optimal wäre es, wenn zur personellen Ausstattung von Kitas künftig Lehrkräfte gehörten, die eine Qualifikation in Deutsch als Zweitsprache erworben haben. Auch an den Grundschulen sollten Lehrkräfte mit einer solchen Ausbildung die Regel sein.

Alle Kinder durchlaufen die Grundschule. Sie ist deshalb die klassische Gemeinschaftsschule. In unseren Großstädten sind die Herausforderungen gewaltig, weil im Unterricht die unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen, religiösen und sozialen Hintergründe der Schüler aufeinandertreffen. Erfahrungsberichte aus Grundschulen in Brennpunktquartieren zeigen, dass die elementaren Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen nur zuverlässig gelernt werden, wenn den Schülern vom ersten Schultag an beigebracht wird, sich mit Neugier und Ausdauer auf die geistige Arbeit einzulassen. In manchen Klassen reicht der Spagat vom Professorenkind, welches bei der Einschulung schon lesen und schreiben kann, bis zum Kind aus Syrien, das sich mit den Mitschülern nur radebrechend verständigen kann. Eine Differenzierung des Lernprozesses ist unumgänglich. Eine Grundschule sei hier als positives Beispiel erwähnt: die Schule in der Köllnischen Heide in Berlin-Neukölln. Die Schule liegt in dem Kiez, der durch die Krawalle in der Silvesternacht 2022 bundesweit Schlagzeilen machte. Der staatliche Inspektionsbericht bescheinigt dieser Schule, die einen hohen Anteil an Kindern nichtdeutscher Herkunft aufweist, hervorragende Arbeit: „Auf die Diagnose des Sprachstandes der Kinder wird großer Wert gelegt, dafür werden unterschiedliche Diagnoseinstrumente (…) genutzt. Außerdem werden die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten in der dritten Jahrgangsstufe (VERA 3) ausführlich und sehr differenziert ausgewertet sowie entsprechende Maßnahmen eingeleitet. So wird für jedes einzelne Kind der Sprachstand regelmäßig erfasst, auf dieser Grundlage ganz gezielt Fördermaßnahmen festgelegt und zusätzlich die individuelle Sprachentwicklung über die gesamte Schulzeit ausführlich dokumentiert.“ Die einfache Botschaft des Berichts: Nur wenn man jedes Kind ständig im Auge hat, kann man es auch optimal fördern. Hätten wir ein Pädagogikportal für die ganze Republik, könnten alle Grundschulen, die mit ähnlich widrigen äußeren Verhältnissen zu kämpfen haben, von dieser vorbildlichen Schule lernen.

Untaugliche Lernmethoden müssen auf den Prüfstand

In den Oberschulen unserer Großstädte sitzen in den Schulklassen Kinder mit völlig unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Sie betreffen Intelligenz, Auffassungsgabe, Vorwissen, Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Fleiß. Kinder, die den Lernstoff kaum verstehen, gemeinsam mit intellektuellen Überfliegern zu unterrichten, sollte nach den jüngsten PISA-Ergebnissen der Vergangenheit angehören. Jetzt zeigt sich nämlich, dass dieses diverse Lernarrangement aus rein politischen Gründen durchgesetzt wurde. Die pädagogische Evidenz spielte dabei keine Rolle. „Fortschrittliche“ Pädagogen in Schule und Universität haben so lange das Mantra des „gemeinsamen Lernens“ und des „voneinander Lernens“ verbreitet, bis die Pädagogen, die auf die wissenschaftliche Evidenz pochten, schließlich kapitulierten. Den Scherbenhaufen kann man jetzt besichtigen. Ich habe lange an einer Berliner Gesamtschule unterrichtet, die in einem Brennpunktgebiet lag. An dieser Schule wurden die Schüler in den drei Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch in Fachleistungskursen unterrichtet. Die schwachen Schüler lernten im G/A-Kurs (Grund- und Anschlusskurs), die guten im F/E-Kurs (Fortgeschrittenen- und Erweiterungskurs). In allen anderen Fächern wurden die Schüler im Klassenverband unterrichtet. Die Lernergebnisse gaben diesem Differenzierungsmodell recht. In jedem Schuljahr erzielte eine nennenswerte Anzahl von Schülern höherwertige Abschlüsse beim Mittleren Schulabschluss und im Abitur, als ihnen im Grundschulgutachten prognostiziert worden war. Begabungsgerechtes Lernen ist dem diversen Lernen überlegen.

Entwicklungspsychologie spricht für begabungsgerechtes Lernen

Die Gesamtschulpädagogik ist bestens erforscht. Deshalb kennt man die Gründe für ihre Leistungsfähigkeit. Wenn schwache Schüler unter sich sind, blühen sie auf und entwickeln den Ehrgeiz, den sie vermissen lassen, wenn sie mit überragenden Schülern gemeinsam unterrichtet werden. Jeder Erwachsene kennt diesen Effekt. Auf einer Betriebsversammlung werden diejenigen den Ton angeben, die die Materie am besten durchdringen und im Reden geübt sind. Wenn aber die nicht so cleveren Mitarbeiter einer Abteilung unter sich sind, tauen auch sie auf und ergreifen das Wort. Die Diversitätspädagogik hat solche elementaren entwicklungspsychologischen Erkenntnisse in den Wind geschlagen. Ihr geht es nur darum, Kinder unterschiedlichster Lernvoraussetzungen in eine gemeinsame Lerngruppe zu zwingen, auch wenn davon nicht alle Kinder profitieren. Die Neidkomponente dieser „Pädagogik“ ist unübersehbar: Wenn es schon einigen Schülern aufgrund ihrer sozialen Herkunft in die Wiege gelegt wurde, dass sie zu den überragenden Lernern gehören, sollen sie zumindest die Schulbank gemeinsam mit denen drücken müssen, denen das Lernen schwerfällt. Was für eine verquere Logik: Wenn man die guten Schüler für ihre Herkunft aus dem Bildungsbürgertum bestraft, schafft man für die schwachen Schüler noch längst keine Vorteile. Im Gegenteil: Die Binnendifferenzierung und das individualisierte Lernen schaden den schwachen Schülern am meisten. Linke Pädagogen haben früher dem begabungsgerechten Lernen vorgeworfen, es diene nur dazu, den intelligenten Kindern aus dem Bildungsbürgertum eine störungsfreie Lernatmosphäre zu verschaffen, indem man die schlechten Schüler von ihnen fernhält. Heute befürworten Wissenschaftler die Rückkehr zum begabungsgerechten Lernen, weil es den Kindern aus der deutschen Unterschicht und aus dem Migrantenmilieu am meisten nütze. Keiner dieser Pädagogen will zum klassischen dreigliedrigen Schulsystem zurückkehren. In den integrativen Schulformen aber wieder begabungsgerecht zu unterrichten, halten sie für sinnvoll, weil diese Didaktik den gravierenden Lernverlusten, die sich aus der großen Heterogenität der Klassen ergeben, entgegenwirken kann.

Respektlose Schüler, frustrierte Lehrer

In einer Tageszeitung war der Bericht einer Lehrerin zu lesen, die seit 15 Jahren an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Deutsch und Geschichte unterrichtet. Ihre Erlebnisse zeigen, was an unseren Schulen schiefläuft: „Ich kann den Schülern kaum den Rücken zukehren, wenn ich etwas an die Tafel schreibe, da werde ich von hinten schon mit Papier oder anderen Dingen beworfen. Viele wollen nicht lernen. Manche Schüler können sich nicht länger als eine Minute konzentrieren, andere schlafen sogar während des Unterrichts ein. Ich habe Fünftklässler, die nicht auf einer Linie schreiben können, keine Grammatik beherrschen. Andere weigern sich, überhaupt etwas zu Papier zu bringen.“ Diesen Schülern fehlt es an allem, was Schule ausmacht: an Lernbereitschaft, Neugier, Disziplin und Respekt. Wenn es das Elternhaus nicht schafft, den Kindern diese Tugenden beizubringen, müsste eigentlich die Schule diese Rolle übernehmen. Viele Lehrkräfte weigern sich jedoch, „Kinder abzurichten“. Sie wollen nicht zu den Paukern werden, die sie in ihrer eigenen Schulzeit gehasst haben.  Von den über 1000 Lehrern, die im Jahr 2022 ihren Beruf aufgaben, nannten viele als Motiv, sie hätten sich in den chaotischen Klassen überfordert und von den Schülern nicht genügend wertgeschätzt gefühlt. Gäbe es in unserem Schulsystem eine störungsfreie Unterrichtskultur, wären diese Lehrkräfte nicht verloren gegangen.

Harmonische Lernkultur verbürgt den Erfolg

Japan hat bei der jüngsten PISA-Studie unter 80 Ländern in Mathematik den ersten Platz belegt. Bekannt ist seit langem, dass im japanischen Mathematikunterricht nicht wie bei uns das mechanische Lernen und Üben von Rechenoperationen im Vordergrund steht, sondern das Bemühen der Lehrkräfte, den Kindern ein grundlegendes mathematisches Verständnis zu vermitteln. Wenig beachtet wird in Deutschland, dass an japanischen Schulen auch eine Lernkultur herrscht, die den Lehrern das Unterrichten enorm erleichtert. In allen japanischen Schulen dienen die ersten Schulwochen fast ausschließlich der Einübung wichtiger Arbeitshaltungen, Routinen und Spielregeln. Die Schüler lernen, worauf es in der Schule und vor allem im Unterricht ankommt. Auf die Einhaltung der Regeln zu dringen, obliegt nicht allein den Lehrkräften. Auch Schüler werden altersgerecht mit in die Verantwortung genommen. Zu den Pflichten der Schüler gehört außerdem das gemeinsame Saubermachen der Unterrichtsräume und die Essenverteilung in der Mensa. Schuluniformen sorgen für den Zusammenhalt der Schüler und die Zügelung egozentrischen Verhaltens. Zur japanischen Kultur gehört die Achtung vor den Lehrern, die als „Meister“ verehrt werden. Von einer solchen Lernkultur sind wir in Deutschland weit entfernt. Oft scheitern Versuche einzelner Schulen, ein pädagogisches Leitbild zu entwickeln und in der Schule durchzusetzen, am Widerstand einzelner Lehrer, die sich nicht „verbiegen“ lassen und an ihrer individuellen „Pädagogik“ festhalten wollen, die sich allzu oft als Laissez-faire-Haltung entpuppt.

Sekundärtugenden verbürgen den Erfolg

Von Sigmund Freud stammt der Begriff des Triebaufschubs. Er bezeichnet einen Vorgang, ohne den keine Gemeinschaft auskommt. Wenn jeder sich das, wonach ihn gelüstet, unverzüglich verschafft, ist ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich. Schulisches Lernen ist überwiegend auf Triebaufschub angelegt. Schüler ahnen das schon früh, wenn sie den Lehrer fragen: Wozu lernen wir das überhaupt? Im Humboldtschen Bildungsideal, auf das unsere Schule zurückgeht, dienen alle Unterrichtsfächer der „wahren Menschenbildung“. Schulische Bildung solle sich deshalb nicht zu früh in Spezialisierungen verlieren, nicht zu früh durch Zwecksetzungen gesellschaftlicher Art von der umfassenden Allgemeinbildung abgelenkt werden. Schüler müssen deshalb schon früh die Haltung vermittelt bekommen, im Lernen einen Zweck an sich zu sehen, den sie mit dem Ziel verfolgen, das erworbene Wissen eines Tages nutzbringend anwenden zu können: bei der Abschlussprüfung, in Studium und Beruf. Schule ist deshalb in ihrem Selbstverständnis das genaue Gegenteil der schnelllebigen, glitzernden Konsum- und Medienwelt. In der Schule schneiden die Schüler am besten ab, die wichtige geistige Tugenden gelernt haben: Neugier, Konzentration, Ausdauer und Ehrgeiz. Wenn die Eltern solche Tugenden nicht vermitteln, muss es die Schule tun.

Erziehen gegen gesellschaftliche Trends

Das Verhalten von Schülern ist immer auch geprägt von gesellschaftlichen Trends und technischen Moden. Das pädagogische Tun der Lehrkräfte muss sich dieser Entwicklungen bewusst sein, um adäquat darauf reagieren zu können.  Gerade weil viele Kinder  an den Unterricht  Ansprüche wie an eine Fernsehshow stellen (spannend, kurzweilig, mit einem coolen Moderator), muss die Schule das vermitteln, was dem schulischen Lernprozess  eigen ist:  Gegen den unverbindlichen Smalltalk die Zuhörkultur, gegen motorische Kurzatmigkeit die Konzentration, gegen die zappenden Bildläufe der Medien die Ruhe des Nachdenkens, gegen schwafelige Beliebigkeit die Genauigkeit im Denken und Sprechen, gegen den ellenbogenbewehrten Egoismus  die Solidarität.

 Die Schulen, die diese überkommenen und bewährten Methoden geistiger Arbeit gegen modische didaktische Trends und mediale Verlockungen verteidigen, können es schaffen, eine verbindliche und zugleich geistig anregende Lernkultur dauerhaft zu etablieren. Je mehr Schulen dies schaffen, desto besser werden die Lernergebnisse der Schüler ausfallen.

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Schulbücher mit ideologischer Schlagseite

Wenn Lehrer Schulbücher im Unterricht verwenden, müssen sie sich auf ihren Wahrheitsgehalt verlassen können. Bei Geschichtsbüchern ist das nicht immer der Fall. Am Beispiel des Nahostkonflikts kann man erkennen, dass die Haltung der Autoren sogar die Wiedergabe historischer Tatsachen beeinflusst. Lehrer sind der geschichtlichen Wahrheit verpflichtet. Mit solchen Büchern haben sie einen schweren Stand.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 13. Januar 2024

In einer Diktatur haben es wissenschaftliche Wahrheiten schwer. Unter Stalin gewannen die Theorien des Biologen Lyssenko Einfluss, wonach die Eigenschaften von Lebewesen nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt werden. Die Existenz von Genen galt als unsozialistisch. Unter Hitler lehnte die „Deutsche Physik“ die Erkenntnisse der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik als „jüdisch“ ab. Unter Putin verkam die Geschichtswissenschaft zur Apologetik einer revisionistischen Machtpolitik. Der Kreml leugnet die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt von 1938, in dem Deutschland und die Sowjetunion ihre Interessensphären in Osteuropa absteckten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hielten sich beide Diktatoren an den Fahrplan der Eroberungen. Gäbe Russland die Verstrickung in den Kriegsausbruch zu, fiele die Legende vom Großen Vaterländischen Krieg, in dem das Gute das Böse besiegte, in sich zusammen.

Pluralismus historischer Erkenntnisse in der Demokratie

Der Demokratie ist es eigen, historische Erkenntnisse im pluralistischen Meinungsstreit der Fachwissenschaft zu gewinnen. Jede staatliche Setzung historischer Gewissheiten ist der Demokratie fremd. Ja, man kann demokratische von autokratischen oder diktatorischen Staatsformen geradezu darin unterscheiden, wie sie mit der Geschichte umgehen. In einem demokratischen Land gibt es keine einzig wahre und allzeit gültige Geschichtserzählung. Alle Bewertungen historischer Ereignisse sind Ausdruck des jeweiligen Forschungsstandes, der sich bei neuen Quellenfunden oder der Neuinterpretation alter Quellen ändern kann. Wenn sich die Interpreten in der Bewertung von Quellen widersprechen, bleiben die Widersprüche stehen, so dass sich jeder Geschichtsinteressierte seinen eigenen Reim auf die Ereignisse machen muss.

Nahostkonflikt: Israel als Buhmann

Am Nahostkonflikt lässt sich zeigen, dass Geschichtsbücher nicht frei von ideologischen Vorurteilen sind, die die Autoren bei diesem heiklen Gegenstand pflegen. Im Geschichtsbuch „Forum Geschichte, Band 4“ (2003) aus dem Cornelsen-Verlag wird Israel die Schuld am ersten Nahostkrieg 1948/49 gegeben: „Nachdem ein Teilungsplan der UNO von 1949 gescheitert war, riefen 1948 führende zionistische Politiker den Staat Israel aus. Die Folge der Staatsgründung war er (erste) Nahostkrieg mit den arabischen Nachbarn Israels.“ Kein Wort davon, dass auch den Arabern ein eigener Staat zugebilligt wurde, dessen Gründung sie ausschlugen, weil sie hofften, durch einen Krieg ganz Palästina erobern zu können. Der Krieg brach nicht aus, weil Israel den UN-Teilungsplan erfüllte, sondern weil ihn die arabischen Staaten ablehnten. Da der Teilungsplan der UN völkerrechtliche Qualität besaß, kam dessen Ablehnung durch die Araber einem Bruch des Völkerrechts gleich.

Israel als Kriegstreiber

Zum Sechstagekrieg 1967 heißt es im Cornelsen-Buch: „Israel siegt über Ägypten, Syrien und Jordanien; Besetzung arabischer Gebiete durch israelische Truppen; der Kampf der Palästinenser um ihr Land beginnt.“ Der Tenor dieser Passage lautet: Israel hat einen Krieg begonnen, um den Palästinensern ihr Land wegzunehmen. Ein seriöser Ansatz hätte die Kriegsursachen differenziert dargestellt: Am 15. Mai 1967 sendet der ägyptische Präsident Nasser zwei Panzerdivisionen auf den Sinai an die Grenze zu Israel. Auch Syrien zieht Truppen in der Stärke von 63.000 Mann an der Grenze zu Israel zusammen. Am 22. Mai sperrt Nasser die Meerenge von Tiran mit Hilfe von Kriegsschiffen, so dass die israelische Hafenstadt Eilat vom Zugang zum Roten Meer abgeschnitten ist. Gleichzeitig verlangt Nasser den Abzug der UN-Friedenstruppen aus dem Gazastreifen und dem Sinai, was auf Kriegsabsichten schließen lässt. Die Kriegshetze der arabischen Führer ist unmissverständlich, wie zwei Zitate belegen: „Unser Ziel ist klar – Israel von der Landkarte zu löschen.“ (Iraks Präsident Abdel Rahman Aref); „Jetzt geht es darum, wie der Staat Israel für alle Zeit vernichtet werden kann.“ (Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser) – Wenn man den kriegerischen Aufmarsch der arabischen Truppen und die verbalen Drohungen der Führer verschweigt, muss Israel als Verursacher des Krieges erscheinen. Vermutlich war das auch die Absicht der Autoren dieses Geschichtsbuches.

Mit Gefühlen für die richtige Sache

Da das Geschichtsbuch für Heranwachsende gedacht ist, glaubten die Autoren, die didaktische Methode des Human Touch verwenden zu müssen, mit der man Ereignisse emotional aufladen kann. Zwei Schülerinnen einer fiktiven internationalen Schule in Jerusalem schreiben sich Briefe: die palästinensische Lara und die israelische Ella.  Lara: „Du hast einen Staat, eine Fahne, einen Pass…Ich habe kein Zuhause, keinen Staat, keine Freiheit…Ich habe nichts…“; Ella: „Auch ich bin der Meinung, es ist nicht richtig, dass ihr keinen Staat, keinen Ausweis, keine Fahne und keine Hymne haben dürft…“. Auch hier wird die historische Wahrheit ausgespart: Nicht Israel hat den palästinensischen Staat verhindert, sondern die palästinensischen Führer im Verein mit den arabischen Staaten. Man kann es grenzwertig nennen, die einseitige Sicht von Schulbuchautoren fiktiven Jugendlichen in die Feder zu diktieren. Für Seriosität spricht ein solches Verfahren jedenfalls nicht.

Interessant ist ein Vergleich mit dem Geschichtsbuch „Geschichte / Geschehen, Bd. 4“ vom Klett-Verlag (2008). Auch hier wird das Faktum unterdrückt, dass die Araber ihren von den Vereinten Nationen gebilligten Staat ausschlugen: „Im Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Alle Bemühungen der Vereinten Nationen, einen friedlichen Ausgleich zwischen Juden und Arabern herbeizuführen, waren zuvor gescheitert.“ Der Ausgleich zwischen Juden und Arabern ist deshalb gescheitert, weil sich die Araber nicht mit dem Staatsgebiet begnügen wollten, das ihnen von den Vereinten Nationen zugebilligt worden war. Es war etwa genauso groß wie das israelische Staatsgebiet. Anscheinend empfinden auch die Autoren des Klett-Buches das Versagen der palästinensischen Führer als so fatal, dass sie es vor den Schülern lieber verschweigen. Die Schüler hätten sonst die Einsicht gewonnen, dass die heutige schlechte Lage der Palästinenser durch die Ignoranz und Überheblichkeit ihrer Führer herbeigeführt wurde.  Sie Israel in die Schuhe zu schieben, kommt dem heutigen Zeitgeist  entgegen.

Zwiespältige Verbesserungen in den Neuauflagen

Schulbücher erfahren in der Regel im Rhythmus von zehn bis fünfzehn Jahren eine Neuauflage. In sie gehen Korrekturen und Verbesserungen ein, die von den Nutzern, meistens von den Lehrkräften, angeregt wurden. So konnte man gespannt sein, ob die beiden Verlage Cornelsen und Klett die Mängel in ihren Geschichtswerken ausbügelten. Leider nur zum Teil. Auch in dem Buch „Forum Geschichte 9/10“ von Cornelsen (2018) wird das entscheidende historische Faktum, die Staatsgründung Israels im Jahr 1948, falsch wiedergegeben: „Unmittelbar nach der Proklamation des Staates Israel 1948 entluden sich die aus Wut und Enttäuschung gewachsenen Spannungen unter den arabischen Völkern in einem Krieg gegen Israel.“ Es fehlt jeder Hinweis darauf, dass die Araber den ihnen angebotenen Staat abgelehnt haben, weil sie ganz Palästina für sich besitzen wollten. Das Verb „entlud“ suggeriert eine spontane Entladung des Volkszornes, worauf auch das Wort „Völker“ hindeutet. Dies war beileibe nicht der Fall. Der Angriffskrieg der arabischen Staaten war von den Staatschefs kühl kalkuliert, untereinander abgesprochen und durch die Propaganda der Staatssender monatelang vorbereitet. Der Generalsekretär der Arabischen Liga Azzam Pascha ließ keinen Zweifel an den Absichten des Krieges gegen Israel: „Dies wird ein Ausrottungskrieg und ein gewaltiges Massaker, über das man einst im selben Atemzug mit dem mongolischen Massaker und den Kreuzzügen sprechen wird“. Solche Zitate lassen sich im Netz leicht finden. Die Autoren des Geschichtsbuchs haben sich dieser Mühe nicht unterzogen.

Bei der Darstellung des Sechstagekrieges 1967 heißt es in der Neuauflage lapidar: „Israel führt einen Präventivkrieg gegen Ägypten, Jordanien und Syrien.“ Warum der Präventivkrieg Israel nötig erschien und was er verhindern sollte, bleibt unerwähnt. Wenn es dann noch heißt: „[Israel] verdreifacht sein Staatsgebiet“, erscheint Israel als gieriger Landräuber.

Eine deutliche Verbesserung gibt es beim Klett-Werk „Geschichte und Geschehen, 9/10“ aus dem Jahr 2017. Hier steht ein korrekter Satz: „Nach dem Zweiten Weltkrieg empfahl die UN-Vollversammlung – vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust in Europa – die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Jerusalem sollte eine neutrale Stadt geben.“ Positiv ist der Verweis auf den Holocaust, dessen schreckliche Folgen die Gewährung eines israelischen Staates durch die Vereinten Nationen entscheidend beeinflusst haben. Bei Cornelsen fehlt dieser Hinweis gänzlich. Auch die Passage über den Sechstagekrieg ist in der Neuauflage des Klett-Buches nicht zu beanstanden: „1967 kam Israel einem drohenden Einfall der verbündeten arabischen Staaten zuvor“.  Die Klett-Autoren haben offensichtlich aus den Fehlern der ersten Auflage gelernt.

Schwachstelle Flüchtlingsproblematik

Während beide Cornelius-Auflagen die Flüchtlingsproblematik vollständig aussparen, widmet ihr das aktuelle Klett-Buch ein eigenes Kapitel. Darin werden die Ursachen der Flüchtlingsfrage und die Folgen, die Unterbringung der Flüchtlinge in Dutzenden Lagern, korrekt geschildert. Dennoch bleibt beim Lesen des Textes das Gefühl zurück, Israel sollte an den Pranger gestellt werden, weil ihm einseitig die Schuld an der Flucht der Palästinenser aus ihrer Heimat gegeben wird. Diesen Eindruck hätte das Buch vermeiden können, wenn es die Geschehnisse differenzierter dargestellt hätte. Unbestritten ist, dass es während des Unabhängigkeitskrieges, den Israel gegen seine Feinde führen musste, zur Vertreibung arabischer Bewohner aus ihren Dörfern kam. Viele flohen aus dem Staatsgebiet Israels und ließen sich im Westjordanland nieder, das während des Krieges von Jordanien erobert und annektiert wurde. Wenn man Augenzeugenberichte aus dem Unabhängigkeitskrieg liest, kann man die Berechtigung der Vertreibung der Araber aus dem Staatsgebiet Israels durchaus verstehen. Sie standen in den Dörfern am Straßenrand und jubelten den einmarschierenden arabischen Truppen zu. Als Geschichtslehrer erinnere ich mich gut an die Bilder aus dem Jahre 1938. Als Hitlers Wehrmacht in die Tschechoslowakei einrückte, standen die Sudetendeutschen am Straßenrand und jubelten, Frauen streuten den Aggressoren Blumen auf die Straße. Wer wollte es den Tschechen verdenken, dass sie diese Kollaborateure nach dem Krieg des Landes verwiesen! Auch in Nahost ist die Logik einfach: Hätten die Araber Israel nicht angegriffen, wäre es nicht zur Vertreibung arabischer Bewohner gekommen. Hätten die Araber 1947 den ihnen zugestandenen Staat akzeptiert, hätte ein friedlicher Bevölkerungsaustausch stattfinden können: Juden ziehen aus dem arabischen Staat in den jüdischen Staat und umgekehrt. Es sind auch keineswegs alle Araber aus Israel geflohen. Die arabische Minderheit von 20 Prozent, die heute in Israel lebt, geht auf die Araber zurück, die damals im jungen Staat Israel geblieben sind. Von ihnen käme heute keiner auf die Idee, nach Gaza oder ins Westjordanland überzusiedeln, weil sie dann in Armut und Unterdrückung leben müssten. Wenn man die historischen Fakten zur Kenntnis nimmt, haben die Araber ihr Flüchtlingsproblem selbst verschuldet – durch die historische Blindheit ihrer Führer, die nach dem Prinzip handelten: Alles oder nichts. Die Nakba-Legende kann man nur aufrecht- erhalten, wenn man die eigene Schuld an Krieg und Vertreibung leugnet.

Tabuisiertes Ereignis: Die Vertreibung der Juden

Während die Araber ihre eigene Vertreibung ständig ins Schaufenster stellen, verschweigen sie bis heute, dass sie selbst eine Massenflucht ausgelöst haben. Während der UN-Debatten im Jahr 1947 gab es von Seiten der arabischen Länder massive Drohungen gegen die Juden. So sagte zum Beispiel der ägyptische Delegierte vor der UN-Vollversammlung: „Durch die Teilung [Palästinas] würde das Leben einer Million Juden in muslimischen Ländern aufs Spiel gesetzt“. Die Juden in den arabischen Staaten galten also als Faustpfand, um die Delegierten der UN-Vollversammlung im arabischen Sinn zu beeinflussen. Historiker beziffern die nach der Gründung des Staates Israel aus Rache aus den muslimischen Ländern vertriebenen Juden auf 820.000 Menschen. 586.000 von ihnen ließen sich in Israel nieder, der Rest wanderte in die USA aus. Diese von den Arabern ausgelöste Massenflucht von Juden wird selbst von den seriösen Medien in Deutschland verschwiegen.

Flüchtlingsstatus auf ewig

Rund 1,5 Millionen Palästinenser leben heute noch in 58 von der UNRWA verwalteten Flüchtlingslagern. Sie befinden sich in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Gazastreifen und im Westjordanland. Weitere 3,5 Millionen leben in Orten der arabischen Gastländer, oft in der Nähe der Flüchtlingslager. Als Staatenlose besitzen sie dort meist keine staatsbürgerlichen Rechte und werden als Minderheit teilweise systematisch diskriminiert. Die arabischen Staaten weigern sich, die Palästinenser als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen, obwohl es „muslimische Brüder“ sind. Die Staatschefs wollen den Druck auf Israel aufrechterhalten, indem sie die Palästinenser in der Hoffnung lassen, sie könnten eines Tages in ihre „Heimat“, d.h. nach Israel, zurückkehren. Über die Absicht, die sie mit deren Rückkehr verfolgen, ließen die arabischen Führer keinen Zweifel: „Wenn die Flüchtlinge nach Israel zurückkehren, wird Israel aufhören zu bestehen.“ (Präsident Nasser, 1961)

Terrorquelle Flüchtlingslager

Die Flüchtlingslager sind mit daran schuld, dass der Nachschub an Terroristen nie versiegt. Die Palästinenser sind das einzige Volk der Erde, das den Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation weitervererbt. Die UN-Organisation UNRWA hat den Palästinensern diesen einmaligen Status verliehen. In den Hütten der Lager hängen Schlüssel an der Wand, die den Zugang zu den Häusern symbolisieren sollen, aus denen sie 1948 vertrieben wurden.  Diese Schlüssel sind keine folkloristische Marotte, sondern die Aufforderung an die männliche Jugend, sich immer wieder in aussichtslose Kämpfe mit den israelischen Sicherheitskräften zu stürzen und den Märtyrertod zu sterben. Die Märtyrerrenten tun ein Übriges. Wie würde die zivilisierte Welt reagieren, wenn die Sudetendeutschen, die Schlesier und die Ostpreußen ihren „Schlüssel an der Wand“ kultivieren und den Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation weitervererben würden? Unsere Vertriebenenverbände haben sich für die Versöhnung entschieden und pflegen einen freundschaftlichen Kontakt mit den Menschen, die heute in ihrer ehemaligen Heimat leben. Den Palästinensern gelingt das nicht, weil sie immer noch von ihren Führern in einen aussichtslosen Kampf geschickt werden. Einem deutschen Schulbuch hätte es gut angestanden, das Flüchtlingsschicksal der Palästinenser mit dem unserer Heimatvertriebenen zu vergleichen. Eine vertane Chance!

Flüchtlingspolitik mit zweierlei Maß

Dass die Vereinten Nationen bei der Flüchtlingsfrage mit zweierlei Maß messen, kann man an einem historischen Beispiel ablesen, das sich im selben Jahr 1947 abspielte wie die Teilung Palästinas. Bei der Trennung Indiens und Pakistans kam es zu einem gigantischen Bevölkerungstransfer. Acht Millionen Hindus flohen aus Pakistan, sechs Millionen Muslims aus Indien. Anders als im arabisch-israelischen Konflikt hielt man in diesem Fall den Austausch der jeweiligen Bevölkerungsgruppen für die beste Lösung, um gedeihliche Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu sichern. Trotz der riesigen Zahl an Flüchtlingen wurde von den UN keine Hilfsorganisation gegründet. In Palästina hält man die Wunde offen, weil eine Mehrheit von Ländern des globalen Südens immer noch von der Auslöschung des Staates Israel träumt. 17 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen negieren bis heute das Existenzrecht Israels. Da das Flüchtlingsthema in der Politik der palästinensischen Führer  eine große Rolle spielt, hätte man erwarten können, dass die hier geschilderten Zusammenhänge in einem Geschichtsbuch für Schüler differenziert dargestellt werden. Das ist in den von mir analysierten Büchern nicht der Fall.

Dunkler Fleck: Kumpanei der Araber mit Adolf Hitler

Ein dunkler Fleck in der arabischen Geschichte kommt in beiden Geschichtsbüchern nicht zur Sprache. Der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, ein fanatischer Judenhasser, wurde von den Briten als höchste geistliche Instanz in Palästina eingesetzt. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er zeitweise in Deutschland. Er war ein glühender Anhänger Adolf Hitlers und ein Freund Heinrich Himmlers. Er bildete auf dem Balkan muslimische Bataillone der Waffen-SS, die sich an Hitlers Eroberungskrieg beteiligten. Dafür bekam er von Hitler die Zusage, dass die Juden Palästinas ebenfalls der „Endlösung“ zugeführt würden, wenn General Rommel Palästina erobert haben würde: „Das deutsche Ziel wird dann die Vernichtung des im arabischen Raum unter der Protektion der britischen Macht lebenden Judentums sein“ (Adolf Hitler am 9. Dezember 1941 im Gespräch mit Husseini) – Nach dem Krieg wurde al-Husseini als Kriegsverbrecher gesucht. Es gelang ihm, sich der Bestrafung zu entziehen, indem er in Ägypten untertauchte. Aus jener Zeit resultiert die Faszination der Araber für die NSDAP und ihre Vernichtungspolitik. Hamas-Anhänger stellen sich in Berlin bewusst in die Nachfolge der Nationalsozialisten, wenn sie Häuser, in denen Juden wohnen, mit Davidsternen markieren oder Hakenkreuze an die Wände schmieren. „Mein Kampf“ erfreut sich in arabischer Übersetzung großen Zuspruchs unter fanatischen Judenhassern.

Schulbücher mit ideologischer Schlagseite

Während beim Klett-Lehrwerk in der zweiten Auflage eine deutliche Verbesserung der Darstellung des Nahost-Konflikts festzustellen ist, verharrt der Cornelsen-Verlag in einer Darstellung, die nicht frei von manipulativen Passagen ist. Es scheint, als wollten die Autoren die Legitimität Israels, die auf einem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1947 beruht, nachträglich noch in Abrede stellen. Das aktuelle Klett-Buch bemüht sich um eine neutrale Schilderung der Ereignisse, lässt dabei aber heikle Geschehnisse aus, die die palästinensische Seite in ein ungünstiges Licht rücken könnten. Das betrifft den Umgang mit der Flüchtlingsfrage und die Verstrickung der Araber in die Vernichtungspolitik der NSDAP. Die Cornelsen-Autoren bemühen sich nicht einmal um Ausgewogenheit und Neutralität. Ihrer Darstellung ist eine latente Parteinahme für die Palästinenser anzumerken. Betrachtet man die jüngere Geschichte des Cornelsen-Verlags, kann man die Ursachen für diese einseitige Darstellungsweise erahnen. Nach der Wende 1989 ging der DDR-Verlag „Volk und Wissen“ im Cornelsen-Verlag auf. Die meisten Autoren, die früher für den kommunistischen Verlag geschrieben hatten, wurden vom Westverlag übernommen. Sie haben bei diesem Wechsel ihres Brötchengebers wohl kaum ihr Geschichtsbild verändert. Die DDR stand wie der große Bruder Sowjetunion „unverbrüchlich an der Seite der arabischen Brüder und des palästinensischen Volkes“, wie die Solidaritätsfloskeln lauteten. Israel galt als enger Verbündeter der „imperialistischen“ USA, während man das palästinensische Volk im Befreiungskampf sah. Bei der Beurteilung Israels spielte auch eine Rolle, dass in der DDR die Opfer des Holocaust als Opfer zweiter Klasse galten. Als „rassisch Verfolgte“ bekamen die Juden niedrigere Renten als die kommunistischen Opfer.

Bleibt eine abschließende Frage: Warum haben die staatlichen Kontrolleure in den Kultusministerien, die für die Genehmigung von Schulbüchern zuständig sind, von der ideologischen Schlagseite der Cornelsen-Bücher nichts bemerkt?

Ein Kommentar

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„Das Bunte können wir nicht mehr abschaffen. Was wir brauchen, sind Konzepte, um damit umzugehen“

PISA-Schock: Erfahrene Lehrkraft spricht über den Zusammenhang von Diversität und Leistungseinbruch an den Schulen im Land

Veröffentlicht auf Focus-online am 8. Januar 2024

Kürzlich hat der frühere Berliner Gesamtschul- und Gymnasiallehrer Rainer Werner* in einem Interview erläutert, wo er die wichtigsten Hebel im Umgang mit der Bildungskrise sieht. Das Thema Migration war für ihn dabei eine Randnotiz. Weil es im Forum ungewöhnlich heftig diskutiert wurde, hat Werner sich dazu bereit erklärt, das Ganze zu vertiefen.

Wir haben kürzlich ein Interview mit Ihnen geführt, das auf außergewöhnlich große Resonanz gestoßen ist. In den Kommentaren im „Forum“ spielte Ihr Hinweis auf die Wichtigkeit der Sekundärtugenden eine große Rolle. Könnten Sie noch einmal ausführen, welche Tugenden Sie meinen?

Heute geschieht es immer häufiger, dass Schüler vor Aufgaben kapitulieren, die Ihnen zu kompliziert erscheinen. Wenn eine Mathe-Aufgabe nicht innerhalb einer Minute lösbar ist, schmeißen manche den Block in die Ecke und sind völlig frustriert. Viele Schulen arbeiten deshalb mit Hilfe von Schulpsychologen daran, das Durchhaltevermögen der Schüler zu verbessern, ihnen Ausdauer und Ehrgeiz beizubringen. Das ist aus nötig, damit sich die Lernergebnisse verbessern. Aufmerksamkeit ist z. B.  eine der Sekundärtugenden, bei der es großen Handlungsbedarf gibt. Die Digitalität hat unser Leben beschleunigt: Inhalte werden oft nur noch überflogen, um ein Like zu setzen, und schon geht’s direkt zur nächsten Botschaft. Die Digitalisierung wird sich nicht aufhalten lassen, im Gegenteil, die Prozesse werden sich weiter beschleunigen. Deshalb arbeitet ein guter Unterricht daran, dass sich die Schüler ohne Zeitdruck auf den geistigen Prozess des Unterrichts einlassen und dabei Durchhaltevermögen entwickeln.

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Kaum jemand dürfte bestreiten wollen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Entwicklung befinden, in der die Schule zahlreiche Probleme, die im Außen existieren, ausbügeln muss: Intoleranz, Unduldsamkeit, Neigung zu Gewalt, Sprachunfähigkeit, Verrohung. Ich finde es falsch und realitätsfremd, wenn wir uns darüber beschweren und sagen, dass sei nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen.  Wir können auf das Verhalten der Kinder am besten da einwirken, wo sich ein großer Teil ihres Lebens abspielt: an den Schulen. Da heute die meisten Schulen Ganztagesschulen sind, gäbe es ideale Möglichkeiten, soziale Tugenden wie Kooperation, Teamgeist, Hilfsbereitschaft und Solidarität auszubilden.  Freie Arbeits- und Projektgruppen wären dafür geeignete Formate.


Sehen Sie auch Handlungsbedarf im Unterricht?

Ja, ich bin überzeugt, es würde ein Ruck durch die Schulen gehen, wenn sich alle bemühen würden, das Kerngeschäft der Lehrkräfte, den Unterricht, zu stärken.  Viele Schulen leiden darunter, dass von den Schulbehörden vor allem Organisatorisches kommt. Dabei ist das Betriebssystem einer Schule immer die Didaktik, der gut gemachte Unterricht. Davon hängt ab, ob die Schüler viel oder wenig lernen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn wir die Pascha-Diskussion konstruktiv führen würden! Ich glaube übrigens, dass Friedrich Merz, von dem die „kleine Paschas“ ja ursprünglich stammen, genau das wollte.

Der CDU-Politiker hat sich im vergangenen Jahr bei Markus Lanz zum Thema geäußert…

… richtig, aber zitiert wurde er hinterher immer nur mit den beiden Skandalwörtern. Ich habe damals im Netz nach dem vollständigen Zitat gesucht und konnte es nicht finden. Dann transkribierte ich die Tonspur der Talkshow und siehe da: Das vollständige Zitat schilderte detailliert, mit welchen Zumutungen Grundschullehrerinnen zu kämpfen haben, wenn ihnen Jungen aus dem arabischen Kulturraum keinen Respekt zollen und sich nach einem starken Mann sehnen. Keine einzige Qualitätszeitung hat das Zitat in Gänze abgedruckt und zum Anlass genommen, eine pädagogische Diskussion über die Schwierigkeiten zu führen, denen die Lehrkräfte an unseren Grundschulen ausgesetzt sind.

Und das finden Sie im „Pascha-Kontext“ wichtig?

Unbedingt! Ich selbst habe zum Beispiel eine befreundete Grundschullehrerin nach ihren Eindrücken gefragt. Sie erzählte mir, dass an der Grundschule das Verhalten der Kinder sehr stark von Phänomen der Übertragung und der Projektion geprägt sei, die Sigmund Freud beschrieben hat.

Bitte erklären Sie, was das ist.

Bei Grundschulkindern, übrigens bei allen, nicht nur bei muslimischen, greift ein psychischer Mechanismus: Die Mädchen suchen in der Grundschullehrerin ihre Mutter. Die Jungen suchen den Vater. Das Prinzip der Übertragung hat viel mit den Rollenvorbildern zu tun, die ein Kind aus dem Elternhaus gewohnt ist. Vereinfacht: Ein Mädchen ist möglicherweise glücklich, wenn es in der Lehrerin ein Abbild der Mutter findet: die warmherzige, knuddelige Frau, die es auch mal drückt. Mit der spröden jungen Intellektuellen hat sie dagegen ein Problem. Jungen aus patriarchalisch geprägten Kulturkreisen sind zuweilen verstört, wenn eine männliche Lehrkraft vergleichsweise soft daherkommt, halblanges Haar trägt und sich dauernd für ihr Verhalten entschuldigt.

Was passiert dann?

In der Grundschule bleiben die Jungen zwar vordergründig gehorsam, aber zu Hause wird dann schon mal gern von der „blöden Tante“ erzählt.

Oder dem entsprechenden „Onkel“?

In der Grundschule eher nicht, hier sind die Lehrkräfte zu 89 Prozent weiblich. Vor dem Hintergrund der Rollenfindung ist das ein Problem – für alle Schüler und für die aus patriarchalen Kulturen ganz besonders. Wenn Jungen mit Migrationsgeschichte weibliche Lehrkräfte nicht akzeptieren, kann es natürlich keinen Kompromiss geben. Kein Schulleiter wird sich von Schülern oder Eltern vorschreiben lassen, welche Lehrer er in den Fachunterricht schickt. Aber das Entscheidende ist, wie es nach der grundsätzlichen Klarstellung weiterläuft. Ganz falsch wäre es, die kleinen Rebellen, auch wenn sie jetzt vermutlich vordergründig erst mal eingebremst sind, für ihr Verhalten zu sanktionieren. Man kann ein Kind nicht für etwas bestrafen, was im Rahmen seiner Persönlichkeitsentwicklung normal ist bzw. was es in der häuslichen Sozialisation gelernt hat. Es geht nur mit erzieherischen Mitteln.

Welche Möglichkeiten gibt es, handgreifliche Konflikte, von denen man in letzter Zeit so häufig hört, einzudämmen?

Es ist fraglich, ob es eine einzelne Lehrkraft allein schafft, die bestehenden Erziehungsdefizite auszugleichen. Das ganze Kollegium muss sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, im Idealfall auf Grundlage eines konsensfähigen erzieherischen Leitbildes. An einer Gesamtschule, an der ich zwölf Jahre lang unterrichtet habe, führten wir z.B. ein Kommunikationstraining durch, durch das Schüler lernten, Konflikte verbal und nicht mehr handgreiflich zu lösen. Ein beträchtlicher Teil der Schüler an dieser Schule stammte aus dem patriarchalen Kulturkreis und hatte es nicht gelernt, Konflikte anders als körperlich zu lösen. Es war verblüffend zu sehen, wie die Schüler nach und nach lernten, heikle Situationen im Rollenspiel friedlich aufzulösen und wie sie die neuen Verhaltensmuster dann auch im Pausenhof immer öfter anwandten. Dies nur als ein konzeptuelles Beispiel. Es gibt viele Punkte, an denen angesetzt werden kann oder muss.

Wo zum Beispiel?

Vor einigen Jahren gab es in Berlin eine Kampagne, die sich an männliche Lehramtsstudenten richtete. Das Ziel war, mehr männliche Lehrkräfte an die Grundschulen zu bringen. Die Kampagne richtete sich darüber hinaus auch an junge Männer in der Ausbildung zum Erzieher, denn auch in den Kitas gibt es eine massive Überrepräsentanz des Weiblichen. Meines Wissens hat die Maßnahme gefruchtet, aber nur ein oder zwei Jahre lang, dann ist der Effekt wieder verpufft. Schade. Das Ziel an den Grundschulen sollte ein ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen zu männlichen Lehrkräften sein. Fifty-Fifty also. Ich bin überzeugt, das könnte viele der aktuellen Konflikte abschwächen.

Aber nur, wenn die Jungen an eine männliche Lehrkraft geraten und diese dann auch nicht zu soft ist – oder?

Das glaube ich nicht. Die nicht so durchsetzungsstarken Lehrkräfte müssen auch lernen, mit solchen Jungen richtig umzugehen. Ich erinnere mich noch an einen Bio-Lehrer, der mir mal bei einem Schulausflug sein Herz ausschüttete. Er klagte über einen türkischen Schüler, der von der ersten bis zur letzten Minute seinen Unterricht stören würde. Den Kollegen machte das fix und fertig, er stand kurz vor der Depression.

Konnten Sie ihm denn helfen?

Zuerst fragte ich: Was hast du gegen den Knaben unternommen? Er antwortete: Ich habe sämtliche schulischen Sanktionen gegen ihn ergriffen – ohne Erfolg. Dann fragte ich ihn, ob er es schon mal mit Lob probiert habe. Er schaute mich an, als ob ich einen völlig unsinnigen Vorschlag gemacht hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Rede mal mit anderen Kollegen, die den Schüler kennen, meinte ich. Frage sie, wo die Stärken des Jungen liegen. Und rede am besten auch mal mit dem Sportlehrer. Das war die richtige Fährte, denn der türkische Junge war ein Fußball-Ass, spielte in der Schulmannschaft als Kapitän. Die Mädchen himmelten ihn an.

Wie ging es weiter?

Ich sagte dem Bio-Lehrer, er solle es wie Angela Merkel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 machen. Einfach zum nächsten Spiel gehen und dann mit dem Jungen ein wenig Smalltalk in der Kabine machen. Genau das tat er. Als er mich beim nächsten Mal kontaktierte, meinte er, er sei mir zu Dank verpflichtet. Er habe den Jungen gelobt – seitdem sei er zahm wie ein Reh. Mir ist es wichtig, diese Geschichte so ausführlich zu erzählen, weil ihr ein häufiges Muster zu Grunde liegt: Oft werden Verhaltensauffälligkeiten von Schülern – Aggressionen, Grenzüberschreitungen, aber auch ein innerer Rückzug – bestraft, statt sie als das zu sehen, was sie meist sind: Hilfeschreie, der Wunsch, mehr beachtet zu werden. Es wäre viel gewonnen, wenn alle Lehrkräfte, die solche Schüler unterrichten, die Signale erkennen und mit den Schülern das Gespräch suchen würden. Viele vermeintlich problematische Schüler, die ich erlebt habe, haben durch ihr Verhalten häusliche Konflikte kompensiert. Wenn man sie nun auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wären einige von ihnen Schulflüchtige geworden. Dabei gibt es so viele Mut machende Beispiele, wie Konfliktspiralen durchbrochen werden können.

Wollen Sie noch eins erzählen?

Gerne. Da war Faizah, die einer anderen Schule verwiesen worden und bei uns gelandet war. Sie war aufmüpfig und renitent, wies alle meine Friedensangebote schroff zurück. Dann bemerkte ich, dass das Mädchen auf dem Weg zur Schule dieselbe U-Bahn-Linie benutzte wie ich. Mehrfach kam ich rein zufällig in ihre Nähe und begann einen harmlosen Smalltalk. Zuerst verschwand sie wütend in ein anderes Abteil. Mit der Zeit wich sie mir weniger aus. Ich wusste natürlich, dass Schüler es als Schmach empfinden, sich mit dem Lehrer, dem potenziellen Feind, gemein zu machen. Ich wusste aber auch um das Lebensgesetz „steter Tropfen höhlt den Stein“. Irgendwann ließ Faizah sich in der U-Bahn auf ein Gespräch ein. Nach ein paar Wochen suchte sie mich im Schulgebäude auf, wenn ich Hof- oder Fluraufsicht hatte. Sie hatte sich so an unsere Gespräche gewöhnt, dass sie sie nicht mehr missen mochte. Auch im Unterricht änderte sich ihr Verhalten grundlegend. In dem Gespräch mit ihr habe ich herausgefunden, was ihr Problem war. Sie wurde zu Hause vom strengen Vater unterdrückt, der – arbeitslos und gesellschaftlich isoliert – versuchte, in fremder Umgebung, die Würde eines arabischen Familienoberhaupts zu wahren. Statt in den Rückzug zu flüchten, wie es viele Schüler bei solchen Konflikten tun, kompensierte Faizah, ihre seelische Not mit aggressivem Verhalten. Das war der Hilfeschrei.

Nun war Ihr privates Engagement im Fall des Mädchens allerdings außergewöhnlich. Nicht jede Lehrkraft kann sowas leisten.

Das ist richtig, es gab damals Kollegen, die spöttisch von ´Werners fürsorglicher Belagerung` sprachen – und wie Sie sagen: Dafür hätte vielen wohl schlicht die Zeit gefehlt. Für mich und meinen Unterricht hat sich der Einsatz aber gelohnt.

Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis der aktuellen PISA-Studie?

Zum ersten Mal wurde dokumentiert, dass die Leistungen aller Schüler unter der größer gewordenen Diversität in den Klassen leiden. Wenn man diese Erkenntnis ernst nimmt, gibt es keine Ausreden mehr. Wir müssen jetzt die Schulen so ertüchtigen, vor allem pädagogisch und didaktisch, dass sie mit den diversen Klassen besser umgehen können.

Wie soll das gehen?

Das Problem ist, dass unsere pädagogischen Konzepte nicht so beschaffen sind, dass sie gutes Lernen unter diesen erschwerten Bedingungen ermöglichen. Die Buntheit können wir sowieso nicht mehr abschaffen. Die ist in modernen Gesellschaften nun mal Realität. In den Lehrerkollegien gibt es so viel pädagogischen Sachverstand, dass es merkwürdig wäre, wenn es einem eingeschworenen Team nicht gelingen würde, Lern- und Erziehungskonzepte zu entwickeln, die mit der Vielfalt der Begabungen, kulturellen und religiösen Prägungen umgehen können. Ich bin davon überzeugt, dass eine Rückkehr zum begabungsgerechten Lernen, vor allem in den Hauptfächern, dazu beitragen könnte, dass alle Schülergruppen gute Lernleistungen erzielen. Warum sollte man nicht die schwachen Lerner in einer Lerngruppe zusammenfassen? Sie würden davon mehr profifieren, als wenn sie im Klassenverband von 25 Schülern untergehen.

Was für Konzepte empfehlen Sie sonst noch, um die Probleme anzupacken?

Zum Beispiel einen durchgehenden fachlichen Förderunterricht für Schüler, die Verständnisprobleme haben. Gute Erfahrungen machen Schulen mit Patenmodellen: Ältere Schüler geben jüngeren fachliche Nachhilfe. Dann die schon genannten Kommunikationsübungen und Rollenspiele.  Lehrkräfte müssen lernen, genau hinzuschauen, um Lernkrisen rechtzeitig zu erkennen. Nützlich wäre es, wenn Lehramtsstudenten im Studium das Instrument der Lerndiagnostik besser vermittelt bekämen. Dann könnten sie später als Lehrkraft viel schneller erkennen, wenn ein Schüler fachliche Probleme hat. Nichts ist für einen Schüler frustrierender, als wenn er mit seinen Verständnisproblemen über Wochen und Monate hinweg alleingelassen wird.

Gibt es auch etwas Positives von der Schule zu berichten?

Ja, eine Schülergruppe hat von unserem Schulsystem in besonderer Weise profitiert: die Mädchen. Sie sind die Gewinner des Aufstiegs durch Bildung. Sie haben die Jungen, was die Abi-Zahlen angeht, vor ein paar Jahren überholt. Und auch qualitativ sind sie spitze: Unter den besten fünf Schülern eines Abi-Jahrgangs finden sich oft nur Mädchen. Mädchen mit ausländischen Wurzeln haben daran nachweislich einen immer größeren Anteil. Ja, man könnte sagen, dass auch muslimische Mädchen durchstarten. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen. Wir sollten aber auch die Jungen im Auge behalten und vor allem an den Grundschulen besser in den Fokus nehmen – Stichwort: mehr männliche Lehrkräfte.
 Das Wort „Lehrer“ fällt bei Ihnen gerade ziemlich oft…

Ich habe vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel geschrieben „Auf den Lehrer kommt es an“. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Lehrer haben es in der Hand, ob das Lernen gelingt oder nicht. Wer eigene Kinder hat, erlebt beim Abendbrot, dass der Sohn oder die Tochter den einen Lehrer loben, weil er so gut erklären kann, und die andere Lehrerin tadeln, weil es in ihrem Unterricht immer chaotisch zugeht. Bei Klassentreffen 20 Jahre nach dem Abitur können sich gestandene Familienväter noch gut an den tollen Geschichtslehrer erinnern, der die historischen Ereignisse so spannend erzählen konnte. Ein guter Lehrer bleibt ewig im Gedächtnis.  

Hätten Sie noch ein schönes Schlusswort?

Ich vergleiche die Schule gerne mit einer ewigen Baustelle. Das Haus ist nie fertig. Mal muss man einen Erker anbauen, mal die Veranda erweitern, mal vielleicht den Garten vergrößern. Schule ist nichts Starres, sondern entwickelt sich durch die, die ihn ihr wirken, stetig weiter. Die Bewohner des Hauses arbeiten für den Moment, denn morgen kann alles schon wieder anders sein. So wie auch sonst im Leben. Überall in der Gesellschaft gibt es Veränderung. Wir leben in einer Welt, die internationaler, digitaler, bunter geworden ist und sich weiter wandelt. Schule darf sich nicht dagegen abschotten. Wir müssen die Schülerschaft so nehmen, wie sie ist. Zu sagen, in diesem Haus haben einige keinen Platz, wäre falsch.



*Vita

Rainer Werner arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Er hat zahlreihe didaktische Lehrwerke (Ernst Klett und Schroedel Verlag) für den Deutschunterricht verfasst, Vorträge zu pädagogischen und didaktischen Themen gehalten und Seminare und Workshops zur Weiterbildung von Lehrern durchgeführt. Rainer Werner schreibt pädagogische Beiträge für Zeitschriften und Tageszeitungen (FAZ, WELT, CICERO-online) und Bücher über den Lehrerberuf („Auf den Lehrer kommt es an“, „Lehrer machen Schule“). Seit seiner Pensionierung war er an acht Berliner Schulen als Vertretungslehrer tätig.

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„Nicht das System ändern! Den Unterricht verbessern!“

Nach PISA-Schock: Ehemaliger Gymnasiallehrer hält nichts von pauschaler Kritik „am System“

Als Reaktion auf das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler bei PISA werden Forderungen nach einem radikalen Umbau des Schulsystems laut. Der frühere Berliner Lehrer Rainer Werner* sieht den Veränderungsbedarf eher woanders.

Veröffentlicht auf Focus-online am 4. Januar 2024


Kürzlich haben wir mit einem früheren Lehrer gesprochen, der aufgezählt hat, wo das deutsche Schulsystem aus seiner Sicht überall krankt: An den Schulen geschehe das Gegenteil von guter Wissensvermittlung, der Stoff würde den Schülerinnen und Schülern eingetrichtert, das Wissen sei lediglich kurzfristig abrufbar – für Tests – und die Inhalte hätten nur wenig mit der späteren beruflichen Realität zu tun. Sehen Sie das auch so?

Überhaupt nicht, aber die Argumente sind mir natürlich wohlbekannt. Und die Systemkritik geht ja noch weiter. Schauen Sie, allein im Jahr 2023 haben über 1000 Lehrer ihren Beruf aufgegeben. Das, was da von vielen zu hören ist, klingt immer wieder ähnlich. Besonders gerne wird über das technische Equipment gelästert: Da gebe es noch langsame und laute Kopierer, aber keine Scanner. Und Kreidetafeln wie im Mittelalter. Als wäre das für den Lernerfolg der Schüler entscheidend. Als wäre die Kernfrage nicht eine andere.

Nämlich?

Welche Didaktik muss ich anwenden, um Kinder mit dem Weltwissen vertraut zu machen? Darum geht es. Die schwedischen Schulbehörden sind übrigens gerade dabei, ihre Konzepte zu überdenken. Man hat nämlich gesehen: Schulen, die viel digital arbeiten, schneiden im Vergleich zu „Bücherschulen“ schlechter ab. Nun holt man die Bücher zurück in den Unterricht. Zurecht! Nicht alles, was von den grünen Tischen der Hochschulen kommt, ist zielführend. Bei der kollegialen Hospitation am Gymnasium erlebte die Biologiestunde eines älteren Kollegen in einer 8. Klasse. Er hat praktisch nichts von dem, was die moderne Pädagogik für wichtig hält, in seinem Unterricht beherzigt. Er dozierte fast die ganze Stunde und zeigte den Schülern nur vier Fotografien.  Und doch hingen die Schülerinnen und Schüler an seinen Lippen.

Beschreiben Sie mal, was machte diesen Lehrer aus?

Zwei Dinge. Erstens: Ein blendendes Fachwissen. Und zweitens: Er konnte brillant erzählen. In der besagten Stunde berichtete er über das soziale Miteinander der Bonobo-Schimpansen, bei denen die Weibchen das Sagen haben. Der Lehrer erklärte, dass das dort herrschende Matriarchat den Stamm überaus friedfertig mache. Ganz anders als bei den Gorillas, wo die Männchen herrschen und zuweilen sogar Babys töten, damit sie schneller wieder eigenen Nachwuchs zeugen können. Wie auch immer: Der Lehrer, Typ Rauschebart, hat den Stoff unglaublich spannend vermittelt, im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill. Ich wette, der Lernerfolg war immens – bei minimalem Medieneinsatz. Für mich ist die wichtigste Eigenschaft eines Lehrers, dass er intuitiv erkennt, ob sein Unterricht wirksam ist oder nicht. Dies sieht man an der Aufmerksamkeit der Schüler, manchmal auch an ihren leuchtenden Augen.

Und wenn er Defizite an seinem Unterricht erkennt?

Dann muss er etwas ändern. Auch mir ist es als Berufsanfänger passiert, dass ich vor einer gähnenden Klasse gestanden bin. Wenn ich an den Kindern vorbei unterrichtet habe, war das immer ein klares Indiz dafür, dass irgendetwas passieren musste. Sowohl in Geschichte als auch in Deutsch habe ich meinen Unterricht immer wieder radikal auf den Prüfstand gestellt. Das kann man an jeder Schule tun. Und in jedem Fach.

Tatsächlich? Man hört doch immer wieder, Lehrer hätten so wenig Freiheiten. Sie seien gefangen im starren Korsett des Lehrplans.

Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Zumindest nicht für Berlin, wo die Lehrpläne in den frühen 2000er Jahren von der überbordenden Stofffülle befreit wurden und seitdem Rahmenlehrpläne heißen. Lehrer haben enorme Freiheiten in der Wissensvermittlung. Natürlich kann man den Satz des Pythagoras nicht auslassen, der muss in der neunten Klasse in Mathe vermittelt werden. Aber nehmen wir das Fach Deutsch an der gymnasialen Oberstufe. Da wird nur vorgegeben, welche literarischen Epochen ich unterrichten muss, z.B. Sturm und Drang, Klassik und Romantik. Aber wie ich diese Themen mit Texten fülle, bleibt allein mir überlassen. Für mich sind das hohle Phrasen, wenn Lehrkräfte über ein System lamentieren, das angeblich keinen Handlungsspielraum lässt. Spätestens seit 2013 wissen wir auch, was für eine gute Ausübung des Lehrerberufs entscheidend ist.

Was denn?


Die Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, die damals in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, war eine Sensation. Ich habe mir die beiden Bücher damals gleich gekauft. Sehr verkürzt zusammengefasst lautet die Botschaft der Studie:  Der Lehrerberuf ist ein Handwerk.

Heißt?


Wenn ich als Lehrer feststelle, dass mein Unterricht nicht optimal verläuft, muss ich mein handwerkliches Geschick verbessern. Deshalb bin ich auch ein Verfechter des Prinzips „Schüler benoten ihre Lehrer“.

Nette Idee…

… die an dem Berliner Gymnasium, an dem ich bis zu meiner Pensionierung unterrichtet habe, eingeführt wurde. Ich war damals Mitglied einer so genannten Steuergruppe, die Konzepte ausarbeiten sollte, wie man den Unterricht verbessern könnte. In den 2000er Jahren haben wir dann zwei Neuerungen eingeführt. Einmal das offene Klassenzimmer: Lehrer konnten sich von da an gegenseitig im Unterricht besuchen. Und dann die Benotung der Lehrer durch ihre Schüler. In altersgerechten Fragebögen wurden die Eigenschaften erfragt, die einen guten Lehrer ausmachen. Es konnten Noten von 1 bis 4 erteilt werden. Beide Neuerungen waren damals noch absolute Tabus. Etwa zehn Lehrer verließen danach die Schule, weil sie sich mit diesen Methoden nicht anfreunden konnten. Aber das war kein Problem, denn in der Folge haben sich viel mehr Lehrer um eine Versetzung an unsere Schule bemüht, als es offene Stellen gab. Wir fragten sie immer: Wisst ihr, was auf euch zukommt? Ihr müsst euch von den Schülern bewerten lassen. Das ist doch genau das, weshalb wir kommen wollen, bekamen wir zur Antwort. Man sieht: Lehrer, die sich ihres Könnens und ihrer Ausstrahlung bewusst sind, haben mit einem solchen Bewertungssystem keinerlei Probleme.


Hand aufs Herz: Gab es auch mal schlechte Noten von den Schülern?

Schlecht wurden z.B. Lehrer bewertet, wenn sie Klassenarbeiten zu spät zurückgegeben haben, oder Mathelehrer, wenn sie Rechenoperationen nicht verständlich erklären konnten. Mir selbst wurde vorgeworfen, mein Erzähldrang sei manchmal ein bisschen zu stark, ich würde dann zu sehr vom Thema abkommen. Bei sowas muss man cool sein. Ich habe mich jedenfalls immer bemüht, das Ganze als willkommene Rückmeldung anzusehen, um den Unterricht weiter zu verbessern. Vor zwei Jahren – zehn Jahre nach meiner Pensionierung – hat dieses Gymnasium von 90 Gymnasien in Berlin den besten Inspektionsbericht der Schulbehörde erhalten. Nicht primär wegen einer supermodernen Ausstattung! Sondern weil hier Lehrkräfte arbeiten, die stets bemüht sind, ihren Unterricht zu verbessern.

Der Kollege, den wir hier neulich im Interview hatten, sieht die große Diversität der Schulklassen als eine der Hauptursachen für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA.

Dass die größer gewordene Diversität für den Unterricht an allen Schulformen eine Herausforderung darstellt, ist – glaube ich – unbestritten. Es hilft aber nichts: Die Schulen müssen lernen, mit dieser Situation in den Klassen produktiv umzugehen.

Was heißt das?

Ich kenne Schulen, die einen sehr hohen Anteil von Migrantenkindern haben und trotzdem gute Lernergebnisse erzielen.

Wie schaffen sie das?

Die Schule, an die ich denke, ist eine Grundschule in Berlin-Neukölln, die lange von einer sehr engagierten Schulleiterin geführt wurde. Da gab es muslimische Väter, die es unterstützen, wenn ihre Söhne den Lehrerinnen gegenüber respektlos auftreten. Die Schulleiterin hat diese Väter in die Schule eingeladen, um sie im pädagogischen Gespräch mit den Gepflogenheiten einer demokratischen Schule vertraut zu machen.

Und das hat gefruchtet?

In Berlin gibt es alle fünf Jahre eine Schulinspektion. Besagte Schule schneidet dabei hervorragend ab. Das Konzept scheint also aufzugehen.

Welches Konzept genau?

Ich habe keinen detaillierten Einblick in die Praxis der Schule, aber anhand des Inspektionsberichts lässt sich sagen: Nicht die Intelligenz der Schüler allein ist entscheidend für den Lernerfolg, sondern auch und vielleicht sogar vor allem die soziale und kulturelle Prägung und die so genannten Sekundärtugenden – also Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz, Fleiß und Konzentration. Richtig ist: Das sind Dinge, die viele Schüler heute zu Hause nicht mehr lernen. Schule kann sich also nicht mehr uneingeschränkt darauf verlassen, dass in den Familien die Regeln des verträglichen Miteinanders in der Gemeinschaft hinlänglich vermittelt werden. Die genannte Grundschule hat sich deshalb die erzieherische Arbeit genauso auf die Fahnen geschrieben wie die sprachliche Förderung der Kinder.


Was geschieht, wenn eine Schule die Herausforderung der Erziehungsarbeit nicht annimmt?

Für mich ist es undenkbar, dass eine Schule vor dieser Herausforderung kapituliert! Das Gegenteil muss passieren. Ja, es stimmt: Wenn Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmern, ihre Erziehung vernachlässigen und die Kunst der verbalen Auseinandersetzung zu Hause nicht eingeübt wird, werden im schulischen Leben zunehmend die Fäuste geschwungen. Die kleinen Paschas, von denen Friedrich Merz gesprochen hat, sind leider Realität. Und nicht nur die. Die Klassen werden bunter – nicht nur durch die Migration, auch durch das, was sonst in der Gesellschaft passiert, in der so gennannten Unterschicht genauso wie beim Bildungsbürgertum. Eltern lassen sich öfter scheiden, Depressionen nehmen zu, Armut macht Familien zu schaffen. Die Schulprobleme der Kinder seien oft Lebensprobleme, hat der Reformpädagoge Hartmut von Hentig einmal gesagt. Das entspricht auch meiner Erfahrung. Doch genau hier muss Schule im Rahmen des Möglichen – und ich sehe, dass vieles möglich ist – aktiv werden und kreative Formen des Erziehens entwickeln. Lehrer, die den Ball nur reflexartig ans Elternhaus zurückspielen, tun weder dem Kind noch sich selbst – denken Sie an die 1000 Lehrer, die allein im letzten Jahr kapituliert haben – einen Gefallen.

Aber hat die Schulleiterin, die die muslimischen Väter an die Schule zitiert hat, nicht genau das getan: Den Ball ans Elternhaus gespielt?

Es stimmt schon, das war eine klare Ansage – aber vermutlich kam sie in Kombination mit einem Angebot zur Kooperation. Nur so führt das Ganze meiner Erfahrung nach zum Erfolg.

Was schlagen Sie vor?

Einige Schulen haben gute Erfahrungen mit so genannten Erziehungsvereinbarungen gemacht, in denen die Eltern sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, auf eine Verhaltensänderung ihres Sohnes oder ihrer Tochter hinzu- wirken.

Wie kann man sich so etwas konkret vorstellen?

Als schön gestaltetes Dokument, in das der Name des Kindes, die Namen der Eltern und die des Klassenlehrers eingetragen werden. Da steht dann zum Beispiel: Herr und Frau Müller verpflichten sich, darauf zu achten, dass Lisa spätestens um zehn ins Bett geht und dass der Fernsehkonsum auf maximal eine Stunde pro Tag reduziert wird. Außerdem lassen sie sich täglich Lisas Hausaufgaben zeigen.


Glauben Sie nicht, dass das manchen Eltern zu viel Einmischung ist?

Ich glaube, wenn wir uns die aktuellen PISA-Ergebnisse ansehen, sehen wir, dass wir aktiv werden müssen, dringend. Und zwar nicht in Form eines Rundumschlags, bei dem das ganze System auf den Kopf gestellt wird. Entscheidend ist vielmehr, dass diejenigen, die in diesem System arbeiten, die Herausforderungen erkennen – und annehmen. Vergessen wir bitte nicht: Das System, über das wir hier reden, besteht aus Menschen und lebt wie kein zweites davon, dass es von Menschen aktiv gestaltet wird. Noch mal: Im bestehenden Rahmen ist aus meiner Sicht ganz viel möglich. Wenn man will – und es auch entsprechend kommuniziert. Die Schulleiterin der Neuköllner Grundschule hätte auch die Flinte ins Korn werfen und sagen können: „Bei der Elternschaft ist nichts zu machen“. Zum Glück hat sie sich für einen anderen Weg entschieden. Ich würde sagen: Diese Frau hat ihr Handwerk verstanden. 

…………………………


* Rainer Werner arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Er hat zahlreihe didaktische Lehrwerke (Ernst Klett und Schroedel Verlag) für den Deutschunterricht verfasst, Vorträge zu pädagogischen und didaktischen Themen gehalten und Seminare und Workshops zur Weiterbildung von Lehrern durchgeführt. Rainer Werner schreibt pädagogische Beiträge für Zeitschriften und Tageszeitungen (FAZ, WELT, CICERO-online) und Bücher über den Lehrerberuf („Auf den Lehrer kommt es an“, „Lehrer machen Schule“).

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Wie die Gendersprache unseren Schülern schadet

Gegen den Willen der Mehrheit der Deutschen hat die Gendersprache Bastionen in Verbänden und Institutionen erobert. Auch viele Redakteure in den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten pflegen diese Sprachvariante. Schülern und ausländischen Deutsch-Lernern erweisen sie damit einen Bärendienst.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 24. Dezember 2023

In den meisten Bundesländern stellen es die Schulbehörden den Schulen frei, im internen Schriftverkehr zu gendern.  Lehrer verwenden dann in einem Elternbrief die Formulierung Schüler*innen; der Schulleiter spricht in einer Presseverlautbarung von fehlenden Lehrer*innen, die es unmöglich machten, den Unterricht voll abzudecken. Wenn aber eine Klassenarbeit oder eine Klausur ansteht, gelten andere Regeln. Dann müssen die Schüler die deutsche Hochsprache verwenden, die Genderformen nicht kennt. Maßgeblich ist die Schreibweise, die der Rat für deutsche Rechtschreibung in seinen Empfehlungen für geschlechtergerechte Schreibung vom 26.03.2021 niedergelegt hat. Darin heißt es: „Das Amtliche Regelwerk gilt für Schulen sowie für Verwaltung und Rechtspflege. Der Rat hat vor diesem Hintergrund die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen.“ Dass sich selbst rot-grün regierte Bundesländer bei prüfungsrelevanten Gegenständen an diese Empfehlung halten, hat   juristische Gründe. Sie möchten sich die Klagen von Eltern ersparen, die in der Verordnung der Gendersprache einen rechtswidrigen Akt sehen könnten.

Fünf Bundesländer zeigen Flagge

In meiner Praxis als Deutschlehrer habe ich festgestellt, dass Schüler am Gymnasium geistig so flexibel sind, dass sie zwischen dem privaten Gendern und der Verwendung der deutschen Hochsprache bei Klausuren mühelos hin und her wechseln können. Anders sieht es an Grundschulen, Gesamt- und Sekundarschulen aus. Dort drücken viele Schüler die Schulbank, denen es ohnehin schwerfällt, die deutsche Sprache so zu lernen, dass sie korrekt lesen und schreiben können. Um diesen Kindern nicht noch ein weiteres Handikap aufzubürden, haben drei konservativ regierte Bundesländer, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Schleswig-Holstein, das Gendern in der Schule generell untersagt. Hessen und Bayern wollen bald folgen. Die Kultusminister dieser Länder verweisen auf die Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung, der die deutsche Hochsprache für Schulen empfiehlt. In Berlin hat die Schulverwaltung schon vor längerer Zeit den Schulen eine Zweigleisigkeit verordnet. Im Unterricht gilt die Hochsprache ohne Genderformen, im schulischen Schriftverkehr ist der „milde“ Genderstern Pflicht: „Lehrer*innen“, „Schüler*innen“ und „Sozialarbeiter*innen“. Das führt dann aber dazu, dass von „Hausmeister*innen“ die Rede ist, wo es überhaupt keine weibliche Person gibt, die diesen Beruf ausübt. Berlin tickt wieder einmal anders als der Rest der Republik.

Gendersprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Ich sehe das Problem darin, dass eine ganze Generation von Schülern mit einer Sprachform aufwächst, die von Interessengruppen mit großer Überzeugungskraft und mit moralischer Überhöhung im öffentlichen Raum verfochten wird. Man begegnet der Gendersprache in halbstaatlichen Institutionen, in den sozialen Netzwerken, in Zeitungen und auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk und Fernsehen. In einem Beitrag für die „Berliner Abendschau“, einer Lokalsendung des rbb, berichtete ein Reporter über eine kreative Werbekampagne der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG. Dabei sagte er: „1.400 Mitarbeitende hat die BVG in diesem Jahr schon für sich gewinnen können.“ Der Zuschauer der Sendung fragte sich: Nanu! Wie ist das möglich? Stellt die BVG jetzt ihre Mitarbeiter ein zweites Mal ein? Bekommen die „Mitarbeitenden“ jetzt einen neuen, besser dotieren Arbeitsvertrag? Solche Ungereimtheiten passieren, wenn man statt des Gattungsbegriffs „Mitarbeiter“ das Partizip Präsens („Mitarbeitende“) benutzt, was beileibe nicht dasselbe bedeutet. Auf welch dünnen Krücken das Partizip Präsens steht, erkennt man zudem, wenn man von „die Mitarbeitenden“ die Einzahl bildet. Dann heißt es nämlich „der Mitarbeitende“. Man landet also wieder in der männlichen Form, die man ja gerade vermeiden wollte. Wenn man aber „die Mitarbeitende“ sagt, schließt man männliche und diverse Bewerber aus, was diskriminierend wäre, weil für alle Stellenausschreibungen per Gesetz gilt: m / w / d.

Gendersprache produziert Nonsens

Nach meiner Erfahrung gibt es die meisten Ungereimtheiten bei der Verwendung des Partizips Präsens dort, wo eigentlich der Gattungsbegriff angebracht wäre. An den Universitäten hat sich der Begriff „Studierende“ für Studenten durchgesetzt – freilich nur im Plural (aus den genannten Gründen). Dabei wird übersehen, dass ein Studierender nicht dasselbe ist wie ein Student. Wenn ein Student mit seinen Kommilitonen in der Kneipe sitzt, ist er kein Studierender mehr (seine momentan ausgeübte Tätigkeit ist das Trinken). Er bleibt aber ein Student (weil dies seinen generellen Status benennt). Wenn er die Speisekarte studiert, wird er vorübergehend zum „Studierenden“. Die ehemalige grüne Verkehrssenatorin Regine Günther gab in einer Presseerklärung bekannt, dass es in Berlin im Jahr 2020 „einundzwanzig tote Radfahrende“ gegeben habe. Man traut den Grünen ja einiges zu. Dass sie aber Tote zum Leben erwecken können, übersteigt dann doch ihre Fähigkeiten. In einer Zeitungsschlagzeile war zu lesen: „Drei tote Radfahrende durch LKW“. Christen schreiben solche Wunder eigentlich nur Jesus Christus zu. Die Wahlbehörde eines Bundeslandes vermeldete: „Viele Wählende blieben zu Hause“. Diese Menschen waren offenbar zugleich an zwei Orten – ein Beweis für die Gültigkeit der Quantentheorie? Wenn man „Trinker“ zu „Trinkenden“ macht, verharmlost man ihre Sucht. Man verstößt zudem gegen die Statistik. In Deutschland gibt es 84,5 Millionen Trinkende, aber nur 3 Millionen Trinker. Der Sprachforscher Fabian Payr schreibt dazu in seinem Bestseller „Von Menschen und Mensch*innen“: „Das Bemühen, Sprache geschlechtergerecht umzugestalten, führt hier nicht nur zu einem Verlust an sprachlicher Präzision, sondern regelrecht zu sprachlichem Nonsens.“  Wenn Schüler solchen Nonsens-Formulierungen ständig ausgesetzt sind, leidet ihr grammatisches Gespür. Dieses ist aber notwendig, um die Komplexität unseres grammatischen Systems geistig zu durchdringen. Im Grunde schadet die Wurstigkeit und Sorglosigkeit, mit der die Gender-Adepten falsche Sprachformen erfinden, dem Sprachgefühl unserer Schüler.

Wie ein falscher Begriff Karriere macht

Im bewegten Flüchtlingsherbst 2015 hatte ich als Lehrer häufig Diskussionen mit Schülern, die sich als aktive Helfer in der Willkommenskultur betätigten. Irritiert stellte ich fest, dass zwei Schülerinnen plötzlich von „Geflüchteten“ sprachen, wenn sie von ihren Erfahrungen mit Flüchtlingen erzählten. Sie erklärten der Klasse, dass das Wort Flüchtling diskriminierend sei, weil Wörter auf „-ing“ eine negative Konnotation hätten. Als Beispiele nannten sie die Wörter Fiesling, Feigling und Engerling. Der neue, unbelastete Begriff verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Alle Menschen, die sich für fortschrittlich halten, benutzen inzwischen diese Bezeichnung. Auch Mitarbeiter der Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sprechen von „Geflüchteten“, wenn sie Flüchtlinge meinen. Leider haben diese Menschen keine deutsche Grammatik zurate gezogen haben, bevor sie sich in die Reihe der Wohlmeinenden eingereiht haben. Sie hätten nämlich lernen können, dass die Bedeutung der beiden Wörter keineswegs identisch ist.

In der Grammatikstunde, die ich in meinen Unterricht einschob, klärte ich die Schüler über die Bedeutungsunterschiede der beiden Begriffe auf. Das Partizip Perfekt „geflüchtet“ verwendet man im Deutschen, um eine situativ bedingte, temporäre Ortsveränderung zu bezeichnen. Ein junges Mädchen kann also seiner Mutter erzählen: „In der Disco war es so heiß, dass ich schon nach einer Stunde ins Freie geflüchtet bin.“ Damit ist sie eine Geflüchtete, aber kein Flüchtling. Ein Junge kann seinem Klassenlehrer berichten: „Tut mir leid, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. Aber ich habe zurzeit Liebeskummer und bin deshalb das ganze Wochenende in eine Traumwelt geflüchtet.“ Auch in eine virtuelle Welt kann man flüchten und wird auch hier zum Geflüchteten – nicht aber zum Flüchtling. Nach der Krawallnacht an Silvester 2022 war im Berliner Tagesspiegel zu lesen, die Mieter einer Wohnanlage in Neukölln seien, als ein Reisebus vor ihrem Haus in Brand geriet, aus ihren Wohnungen geflüchtet. Kein vernünftiger Mensch würde behaupten, sie seien nun Flüchtlinge.

Gut gemeint ist nicht immer gut

Ein Flüchtling ist ein Mensch – Mann, Frau, Kind -, der durch Krieg, Verfolgung, Hunger, Naturkatastrophen oder Epidemien gezwungen ist, seine Heimat dauerhaft zu verlassen. Der existentielle Zwang und die oft lebenslange Vertreibung aus der Heimat fehlen bei den „Geflüchteten“ vollständig. Der vermeintlich politisch-korrekte Spracheingriff beim Wort Flüchtling ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine gute Absicht mitunter das genaue Gegenteil bewirkt:  Die Vokabel „Geflüchtete“ führt zu einer Verharmlosung und Banalisierung eines Tatbestandes, der für die betroffenen Menschen so schrecklich ist, dass sich eine Verniedlichung verbietet. Kein vernünftiger und human denkender Mensch würde bei den Juden, die vor dem Holocaust aus Deutschland geflohen sind, von „Geflüchteten“ sprechen. Und wenn er es täte, würde er sich aus dem seriösen Diskurs verabschieden.

Die Menschen, die das Wort „Geflüchtete“ benutzen, unterliegen noch einem weiteren grammatischen Irrtum. Die Wörter auf -ling sind im Deutschen keineswegs nur negativ konnotiert. Es gibt zwar den Schädling, den Eindringling und den Fiesling, man findet aber auch den Schmetterling, den Säugling und den Liebling. Das Wort Flüchtling befindet sich also in bester Gesellschaft.

UNHCR beklagt die Verharmlosung des Flüchtlingsschicksals

Vor kurzem hat das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR klargestellt, dass es „das Wort Geflüchtete als abwertend“ betrachte und nicht benutzen wolle. Ein Flüchtling hingegen genieße laut Genfer Flüchtlingskonvention Schutz vor Verfolgung. UNHCR hält den Begriff „Geflüchtete“ für banal, weil “wir doch alle schon einmal vor irgendwas geflüchtet sind“. Der Gebrauch dieses Begriffes rücke die Elendsflüchtlinge zudem in zynischer Weise in die Nähe von Straftätern, die „vor der Polizei geflüchtet“ sind. Dass dies so ist, kann man nachvollziehen, wenn man die täglichen Pressemeldungen der Polizei liest. Dort heißt es z.B.: „Gestern flüchtete ein mutmaßlicher Straftäter vor einer Polizeikontrolle.“ Oder: „Ein zu lebenslänglicher Haft verurteilter Mörder flüchtete in den späten Abendstunden aus der Justizvollzugsanstalt Tegel.“ Dass es sich bei diesen „Geflüchteten“ nicht um Flüchtlinge handelt, ist mit Händen zu greifen. Im Umkehrschluss gilt: Wer Flüchtlinge als „Geflüchtete“ bezeichnet, rückt sie ungewollt in die Nähe von Straftätern. Die Organisation „Pro Asyl“, an deren flüchtlingsfreundlicher Haltung wohl kein Zweifel besteht, sprach sich bereits 2016 für den Begriff „Flüchtling“ aus, weil er die durch internationale Vereinbarungen gewährleisteten Rechte besser garantiere als das banale Wort „Geflüchtete“.

Mein Plädoyer in meinen Klassen war eindringlich: Diejenigen, denen das Schicksal der Flüchtlinge aus den Kriegs- und Hungergebieten dieser Welt am Herzen liegt, sollten zum treffenden Wort Flüchtling zurückkehren. Leider konnte ich nicht alle Schüler überzeugen. Zu tief hatte sich der vermeintlich „unbefleckte“ Begriff in das sprachliche Unterbewusstsein der Schüler eingegraben.

Goethe-Institut auf sprachlichen Abwegen

Das gemeinnützige Goethe-Institut unterhält Filialen an 158 Standorten in 98 Ländern. Sie bieten Sprachkurse in den Niveaustufen A1 bis C2 an. Die Teilnahme an einem Sprachkurs ist für Ausländer aus Nicht-EU-Ländern, die sich in Deutschland einbürgern lassen wollen, verpflichtend.   Man sollte annehmen, dass das Goethe-Institut das amtliche Hochdeutsch lehrt, das der Rat für deutsche Rechtschreibung empfiehlt. Weit gefehlt. In den Lernmaterialien, die man im Netz aufrufen kann, findet man einen kruden Gender-Kauderwelsch. Ein Text klingt, als wolle man Grundschulkindern die Segnungen der Gendersprache nahebringen: „Heute sehen wir uns genderinklusive Sprache an. (…) Viele Nomen für Personen und Berufe im Deutschen haben eine maskuline und eine feminine Form: der Schüler und die Schülerin. Und wenn man alle ansprechen möchte? Früher sagte man dann einfach: ´Liebe Schüler`. Heute ist das nicht mehr so normal. Deutsch hat viele Optionen die Genderdiversität auszudrücken. Wenn eine Schuldirektorin eine Rede mit ´Liebe Jury, liebe Lehrer und Schüler` beginnt, ist das problematisch. Es ist nicht klar, ob ihre Rede auch für Lehrerinnen oder nicht-binäre Schüler (Schüler_innen) ist. Sie kann aber nach ´Schüler` eine Mini-Pause machen und dann ´innen` sagen. So ist klar: Sie meint Schüler und Lehrer aller Gender.“ Der Text tut so, als könnten sich die Deutschen ohne Gendersprache nicht mehr richtig verständigen. Kein Wort darüber, dass in der Grammatik des Deutschen ein generisches Maskulinum existiert, das Personen beiderlei Geschlechts einschließt und das die Deutschen bis auf eine kleine Minderheit automatisch benutzen. Da das Goethe-Institut aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, macht sich der Deutsche Bundestag an dieser kläglichen sprachlichen Außendarstellung unseres Landes mitschuldig. In Frankreich gibt es die Académie française, die streng und unbestechlich über die Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache wacht. In Deutschland ist der Rat für deutsche Rechtschreibung ein zahnloser Tiger, dem selbst das deutsche Parlament auf der Nase herumtanzt. Für eine Institution, die nach unserem größten Dichter, Goethe, benannt wurde, ist diese Art der Genderpropaganda peinlich.

Sollen Ausländer auch gendern?

Wenn es um die Propagierung der Gendersprache geht, darf die Bundeszentrale für politische Bildung nicht fehlen. In einem Meinungsbeitrag schreibt eine Referentin: „Aus sprachdidaktischer Sicht gibt es für den Kontext des Deutschlernens keinen Grund, gendergerechte Sprachverwendung nicht auch als Lerngegenstand anzusehen und zu etablieren.“ Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) sind Lehr- und Lernprogramme für Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen und die deutsche Sprache lernen wollen. Man sollte annehmen, dass für ausländische Lerner die deutsche Hochsprache das oberste Lernziel darstellt. Wie uns die Referentin belehrt, sollen sie aber auch die Gendersprache lernen. Denn: „Das Ziel gendergerechter Sprache ist es unter anderem, die Trennung von Sprachsystem und Sprachgebrauch zu durchbrechen und sprachliches Handeln als Teil der (Re-)Produktion von gesellschaftlichen Strukturen anzusehen.“ Im Klartext heißt das: Die Spracherziehung der ausländischen Lerner soll in den Dienst der Gesellschaftsveränderung gestellt werden. Die Sprache soll als Vehikel dienen, patriarchalische Strukturen zu unterlaufen. Hier sollte man sich den Auftrag dieser Bundesbehörde in Erinnerung rufen: „Die Bundeszentrale hat die Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken.“Von einer gesellschaftsverändernden Mission ist nicht die Rede. Vermutlich haben sich, wie es häufig in nachgeordneten Behörden der Fall ist, übermotivierte „Partisanen im Apparat“ verselbständigt und verfolgen jetzt ihre eigene Mission.

Einsichtige Schulbuchverlage

Einsichtiger zeigen sich die kommerziellen Schulbuchverlage, die Lernmaterial für DaF und DaZ herstellen. Beim Klett-Verlag heißt es: „Da wir bei den Lehr- und Lernmedien besonders unsere fremdsprachlichen Zielgruppen berücksichtigen müssen, versuchen wir, nicht laut lesbare Formen wie Unterstrich, Sternchen, Binnen-I oder Gendergap zu vermeiden, um eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten“. Der Cornelsen-Verlag schreibt in einer Mitteilung, er fühle sich an die amtliche Rechtschreibung des Deutschen gebunden und verzichte deshalb auf Genderformen. Die Volkshochschulen, die ebenfalls Sprachkurse für Ausländer anbieten, verwenden als Zugeständnis an die Gendersprache allenfalls die eingespielten Doppelbezeichnungen wie „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“. Verlage und Volkshochschulen haben erkannt, dass man Ausländern keinen Gefallen tut, wenn man ihnen eine Sprachform beibringt, die sie in den meisten schriftlichen Erzeugnissen nicht vorfinden – schon gar nicht in unserer klassischen Literatur.

Blindenverband gleichfalls skeptisch

Das Präsidium des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV) hat sich zur Gendersprache positioniert. In der Stellungnahme heißt es: „Gendern durch Sonderzeichen und Typografie (Beispiele: Mitarbeiter­_innen, Mitarbeiter/-innen, MitarbeiterInnen, Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter:innen) ist für viele blinde und sehbehinderte Menschen problematisch und deshalb nicht zu empfehlen. Der Grund liegt darin, dass sich die Sonderzeichen der Gendersprache mit der Brailleschrift nicht darstellen lassen und dass sie auch beim Vorlesen durch Personen oder Computerprogramme nicht hörbar sind. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass in einer Zeit, in der wir alle physischen Hürden abbauen, die die Bewegungsfreiheit von Blinden und Sehbehinderten einschränken, sprachliche Hürden errichtet werden, die aus einer Sprachform resultieren, die von keinem deutschen Parlament jemals legitimiert wurde.

Politische Korrektheit schadet Menschen mit sprachlichen Defiziten

Die Grundbildungsstudie „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“, die an der Universität Hamburg durchgeführt wurde, hatte zum Ergebnis, dass in Deutschland rund 6,2 Millionen Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen leben. Dies entspricht etwa 12 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen rund 10,6 Millionen Menschen, die fehlerhaft schreiben. Die Zahl dürfte sich durch die schulischen Defizite während der Corona-Pandemie und durch den in den letzten Jahren verstärkten Zuzug von Migranten noch erhöht haben.  Diese Menschen werden infolge ihrer Defizite an der vollen gesellschaftlichen Teilhabe gehindert. Ihnen fällt es auch schwer, am Arbeitsleben teilzuhaben, weil bei den meisten beruflichen Tätigkeiten ein Minimum an Schriftlichkeit gefordert wird. Wenn man dies weiß, ist es unverständlich, dass eine kleine urbane Elite darauf beharrt, unsere gewachsene Sprache durch politisch motivierte Eingriffe zu verändern. Der Distinktionsgewinn der einen, ist die Benachteiligung der anderen. Treffend hat dies eine Grundschullehrerin in einem Leserbrief ausgedrückt, der in einer Berliner Tageszeitung zu lesen war: „Ist Gendern erfunden worden, um die Kinder der Unterschicht noch weiter zu demütigen und auszusortieren?“

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Der Verfall der Bildung

PISA-Studie und IQB-Bildungstrend

Seit Jahren werden die Leistungen unserer Schüler schlechter. Ursachen sind die zunehmende Diversität der Schülerschaft, aber auch problematische Lernmethoden. Wenn ein Umsteuern nicht bald gelingt, leidet der Wirtschaftsstandort Deutschland.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 6. 12. 2023

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) veröffentlichte im Oktober 2023 den neuesten Bildungstrend. Er bewertet die Kompetenzen der Neuntklässler im Fach Deutsch. Überprüft werden die Kompetenzen Lesen, Zuhören und Rechtschreibung. Die Ergebnisse der Studie sind niederschmetternd. Gleichwohl gingen Politik und Öffentlichkeit nach einem kurzen „Oh, wie schlimm“ wieder zur Tagesordnung über. Seit Jahren hat man sich anscheinend daran gewöhnt, dass die Leistungen unserer Schüler immer schlechter werden. Das Versagen der Schüler im Fach Deutsch ist nicht nur ein Armutszeugnis für das Land der Dichter und Denker. Es sorgt dafür, dass sich auch die Leistungen der Schüler in den anderen Fächern verschlechtern. Deutsch ist nämlich in allen Fächern außer den Fremdsprachen Unterrichtsprache. Wer sie nicht beherrscht, kann auch dem Unterricht in Geografie oder Chemie nicht richtig folgen. Selbst in Mathematik leiden die Leistungen, weil die meisten Mathe-Aufgaben in Textform gestellt werden.

An der Grenze zum Analphabetismus

Um sich das volle Ausmaß des Desasters zu vergegenwärtigen, reichen einige zentrale Aussagen der Studie. Bei den Schülern, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben, verfehlen knapp 23 Prozent im Lesen die Mindeststandards. Beim Zuhören sind es ca. 25 Prozent, in der Rechtschreibung gut 13 Prozent. Bis zu 18 Prozent der Schüler weisen so schlechte Leistungen auf, dass sie nicht einmal den Anforderungen des Hauptschulabschlusses genügen, der sich neuerdings Erster allgemeinbildender Schulabschluss (ESA) nennt. Die Mindeststandards in Deutsch bilden die Scheidelinie, die Schüler vom Analphabetismus trennt. Man kann sich ausmalen, was es für die Berufswelt bedeutet, wenn immer mehr Schulabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen, des Deutschen nicht mächtig sind. Dass der Leistungspegel seit 2015 stetig nach unten zeigt, geben die Autoren der Studie unumwunden zu: „In keinem [Bundes-]Land sind im Fach Deutsch signifikant positive Veränderungen zu verzeichnen.“ Auch die Gymnasien sind vom Leistungsabfall nicht verschont geblieben. Im Fach Deutsch erreichten Gymnasiasten bundesweit ein signifikant geringeres Kompetenzniveau als im Jahr 2015. Der Rückgang der Leistungen an den Gymnasien ist zwar geringer ausgeprägt als in der Gesamtpopulation der Neuntklässler, aber ebenfalls substanziell.

Diversität in den Schulklassen mindert die Leistung

Ein Umstand ist an der Studie neu: Sie drückt sich nicht länger darum herum, eine der Ursachen für den Leistungsverfall klar beim Namen zu nennen: die zunehmende Diversität in den Klassen, verursacht durch Schüler mit Migrationsgeschichte, die entweder das Deutsche gar nicht oder nur rudimentär beherrschen. 2022 erreichte der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in der Schülerschaft 38 Prozent, in den Brennpunktgebieten unserer Großstädte beträgt er an manchen Schulen bis zu 90 Prozent.  Der Anstieg dieser Schülerpopulation geht seit 2015 auf Schüler zurück, die selbst noch im Ausland geboren wurden. Da sie bei der Einschulung nicht Deutsch sprechen, belasten sie den Unterricht in besonders gravierender Weise. Die Lehrkräfte müssen nämlich neben dem regulären Fachunterricht die Vermittlung der deutschen Sprache bewältigen.  Die Leistungsstudie hat herausgefunden, dass die Kinder zugewanderter Familien „in allen Fächern und Kompetenzbereichen signifikante Kompetenznachteile“ aufweisen. Sie betreffen vor allem das sinnerfassende Lesen und Zuhören. Da beide Kompetenzen für das schulische Lernen elementar sind, kann man erahnen, weshalb Kinder mit Migrationsgeschichte an unseren Schulen deutlich schlechter abschneiden als Kinder aus einheimischen Familien.

Grundschule am Limit

Vor kurzem machte die Ludwigshafener Gräfenau-Grundschule bundesweite Schlagzeilen, weil bekannt wurde, dass 40 Erstklässler die Klasse wiederholen mussten, weil sie in der ersten Klasse das für die Versetzung nötige Wissen nicht erworben hatten. Im Jahr zuvor waren es nur 24 Schüler gewesen. Die Schule liegt im Hemshof, einem Stadtteil, der sich zum bevorzugten Zentrum der Einwanderung verschiedener Nationalitäten entwickelt hat.  Stadtsoziologen gilt dieses Quartier als Brennpunkt oder Problemviertel. An der Gräfenau-Grundschule beträgt der Anteil ausländischer Kinder 98 Prozent. Viele Kinder sprechen bei der Einschulung kein Deutsch, weil sie keine Kita besucht haben. In Familie und Freizeit lernen sie auch kein Deutsch, weil man sich im Wohnquartier problemlos mit der Muttersprache verständigen kann.  Man findet immer jemanden aus der eigenen ethnischen Community. Die meisten Eltern der Kinder gelten als bildungsfern. Sie sind zudem so durch die Bewältigung ihres Lebensunterhalts so sehr in Anspruch genommen, dass sie ihren Kindern keine Hilfe sein können. Die Startbedingungen für solche Kinder sind denkbar schlecht. Wenn sie im normalen Fachunterricht nebenher Deutsch lernen müssen, lernen sie die Sprache nicht systematisch. Zudem bremsen sie das Lerntempo derjenigen, die des Deutschen schon mächtig sind und sich auf das fachliche Lernen konzentrieren möchten. Für eine Auslagerung der Deutsch-Förderung aus dem Unterricht fehlen der Schule die Lehrkräfte, von Fachkräften für Deutsch als Zweitsprache ganz zu schweigen. Deshalb wursteln sich die Lehrkräfte durch den Alltag und kompensieren die Mangelsituation mit erhöhtem persönlichem Einsatz.

Gezielte Sprachförderung trägt Früchte

Als Ruheständler habe ich an mehreren Berliner Gymnasien Vertretungsunterricht geleistet. Dabei konnte ich hautnah studieren, wie sich diverse Klassen auf das Leistungsbild der Schüler auswirken. Im bürgerlichen Bezirk Zehlendorf betrug der Ausländeranteil weniger als 20 Prozent. Das Leistungsvermögen der Schüler war in meinen Fächern Deutsch und Geschichte erfreulich hoch. Anders sah es an einem Gymnasium im Bezirk Schöneberg-Tempelhof aus. Dort fanden sich in den unteren Klassen bis zu 60 Prozent Kinder mit Migrationsgeschichte. Mir wurde schnell klar, dass diese Kinder bei den Leistungsüberprüfungen, die einen elaborierten Sprachgebrauch voraussetzen, benachteiligt sind. Ich bot deshalb für Migrantenkinder am Nachmittag freiwillige Förderstunden an, bei denen wir intensiv die Formate der Klassenarbeiten übten. In Deutsch war es die Analyse literarischer Texte, in Geschichte die Interpretation historischer Quellen. Die Schüler mit Zuwanderergeschichte sprachen alle gut Deutsch. Dennoch hatten sie Probleme, das literarische Deutsch der Romane und Kurzgeschichten und das antikisierende Deutsch der historischen Quellen zu verstehen. Der Förderunterricht wurde von den Schülern gut angenommen und war erfolgreich. Fast alle Teilnehmer schnitten bei den Klassenarbeiten gut ab. Mir zeigte dieses Beispiel, wie der Weg aussehen könnte, der Kinder mit sprachlichen Defiziten so fördert, dass sie ihre intellektuellen Gaben optimal ausschöpfen können. Die Sprachförderung darf nicht im regulären Unterricht stattfinden, weil er sonst den Fachunterricht beeinträchtigt. Er sollte von Deutschlehrern in Sonderkursen durchgeführt werden, die sich auf die Anforderungen der jeweiligen Unterrichtsfächer beziehen. Dass Migrantenkinder ebenso erfolgreich lernen können wie einheimische Kinder, zeigen die Abiturergebnisse unserer Gymnasien. Unter den zehn besten Absolventen eines Jahrgangs finden sich immer etliche Schüler mit Einwanderergeschichte.

Sekundar- und Gemeinschaftsschulen mit problematischen Lernmethoden

Im Sekundarbereich besuchen die meisten Schüler die integrativen Schulformen, die in jedem Bundesland einen anderen Namen tragen. Sie haben die Gesamtschule abgelöst, die bei rot-grünen Bildungsplanern unter Selektionsverdacht geraten war. Ihnen missfällt, dass an dieser Schulform die Schüler in den drei Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch nach Begabung unterrichtet werden. Obwohl dieses Fachleistungsprinzip gute Lernergebnisse ermöglichte, wurde die Gesamtschule vielerorts ausgemustert und durch eine Schulform ersetzt, an der die Binnendifferenzierung dominiert. Wenn eine Sekundarschule neben dem Mittleren Schulabschluss auch noch das Abitur anbietet, entsteht in den Klassen eine Begabungsmischung, die vom halben Analphabeten bis zum intellektuellen Überflieger reicht. Man muss kein pädagogischer Experte sein, um zu ahnen, dass das beste Unterrichtskonzept nicht in der Lage sein wird, solchen extremen Begabungs- und Wissensunterschieden gerecht zu werden. Ich habe notgedrungen nach diesem Konzept unterrichtet und festgestellt, dass von der Binnendifferenzierung nur die mittlere Schülergruppe, die in den Klassen die Mehrheit bildet, profitiert. Die schwachen Lerner fallen zurück, weil ihnen keine optimale Förderung zuteilwird, und die guten Lerner bekommen nicht die anspruchsvollen Impulse, die ihrem hohen Intellekt und ihrer schnellen Auffassungsgabe angemessen wären.

Viele Bundesländer haben im Wissen um die Schwäche der Binnendifferenzierung eine weitere Schulform eingeführt: die Gemeinschaftsschule. Sie hat sich dem individualisierten Lernen verschrieben. Jeder Schüler bekommt einen auf sein Auffassungsvermögen zugeschnittenen Lernplan, den er eigenständig abarbeitet. Die Hilfe der Lehrkraft darf er nur dann in Anspruch nehmen, wenn er aus eigener Kraft absolut nicht mehr weiterkommt. Erfahrungen mit dieser Lernmethode haben gezeigt, dass sie besonders den leistungsschwachen Schülern schadet. Sie haben im Elternhaus nicht gelernt, sich selbst zu organisieren. Außerdem brauchen sie die helfende und leitende Hand der Lehrkraft, die ihnen aber wegen des Dogmas des Selbstlernens allzu oft vorenthalten wird. Für die schlechten Schülerleistungen unserer Schüler ist also nicht nur die diverse Zusammensetzung der Schülerschaft verantwortlich, sondern auch eine dogmatische Festlegung auf Lernmethoden, denen man – wissenschaftlich ungeprüft – eine Wirksamkeit unterstellt, die sie offensichtlich nicht besitzen. Leider hat die IQB-Studie zu diesem Manko keine Aussagen getroffen.

Chaos bestimmt die Lernatmosphäre

In Berlin werden alle staatlichen Schulen im Turnus von fünf Jahren von der Schulinspektion der Bildungsbehörde überprüft. Eine Jury aus drei erfahrenen Lehrern spricht mit Schülern und Eltern, studiert Dokumente, wie z.B. das Schulprogramm, und besucht jede Lehrkraft im Unterricht. Mir erzählte ein beteiligter Schulleiter, dass man das, was er an einigen Berliner Sekundarschulen erlebt hat, nicht mehr Unterricht nennen könne. Ihm sei klar geworden, dass man angesichts der chaotischen Zustände in den Klassen auch weiterhin mit schlechten Lernleistungen der Schüler wird rechnen müssen. Um dieser Aussage auf den Grund zu gehen, hospitierte ich in einer Integrierten Sekundarschule in Berlin-Moabit. Eine freundliche junge Kollegin nahm mich mit in ihren Deutschunterricht, den sie einer 9. Klasse erteilte. In der folgenden Doppelstunde erlebte ich hautnah, wie es den Schülern gelang, eine echte Lernatmosphäre zu sabotieren. Von 20 Schülern kamen fünf zu spät; ein Drittel der Schüler hatte das benötigte Lernmaterial vergessen; von den drei Schülern, die ein Referat halten sollten, mussten zwei passen, weil sie die Vorbereitung nicht geschafft hatten. Während des Unterrichts – es ging um die korrekte Abfassung eines Bewerbungsschreibens – war es so laut, dass man die Lehrerin nicht immer verstehen konnte; einige Schüler aßen und tranken ungeniert während des Unterrichts. Am Ende der beiden Stunden war mit Händen zu greifen, dass nur ein Teil der Schüler wirklich verstanden hatte, wie man ein Bewerbungsschreiben so abfasst, dass es der Personalchef nicht gleich in den Papierkorb befördert. Was einen guten Unterricht ausmacht – Konzentration auf die Sache, geistige Anstrengung, gegenseitiges Zuhören – hatten diese Schüler nie gelernt. Ein Jahr später wollten sie die Schule mit dem Mittleren Schulabschluss verlassen und eine Lehre beginnen. Mir war bewusst, dass es für diese Schüler einen mühevollen Start ins Berufsleben geben würde. Warum werden in den Schulen solche Zustände geduldet? Gibt es keine regelmäßigen Unterrichtsbesuche durch die Schulleitung? Warum werden Lehrkräfte, die methodische Schwächen zeigen, nicht durch Fortbildungen ertüchtigt? Offensichtlich hat es sich in den Schulen noch nicht herumgesprochen, dass Unterrichten ein Handwerk ist, das mit Können, Sorgfalt und Verantwortung ausgeübt werden muss, damit die Schüler in ihren Lebenschancen nicht beeinträchtigt werden.

Sekundärtugenden verbürgen Lernerfolg

Mit wurde bei diesem Schulbesuch klar, dass viele Lehrkräfte keine Anstrengungen mehr unternehmen, den Schülern die für erfolgreiches Lernen unverzichtbaren Sekundärtugenden zu vermitteln. Vermutlich gilt das vielen jungen Lehrern als „autoritär“ und „übergriffig“. Dabei weiß die Wissenschaft, wie wichtig die richtige Lerneinstellung für das Lernen ist. Lernforscher der Universitäten Tübingen, Houston und Illinois haben 2018 in einer gemeinsamen Studie herausgefunden, dass es zwischen Sekundärtugenden wie Fleiß, Verantwortungsgefühl, Durchhaltevermögen und schulischem Erfolg einen deutlichen Zusammenhang gibt. Solche Lerneinstellungen haben offenbar auch einen erheblichen Einfluss auf den beruflichen Erfolg im späteren Leben, und zwar unabhängig von der Intelligenz der Schüler sowie von Bildung oder Einkommen ihrer Eltern. „Das beeindruckende an diesem Ergebnis ist, dass unser Verhalten einen Einfluss darauf hat, was aus uns wird, und nicht nur, wie wir von der Natur oder unseren Eltern ausgestattet wurden“, so Marion Spengler von der Universität Tübingen, Erstautorin der Studie. Von Stefan Zweig gibt es eine schöne Definition der Tugenden, die für die Aneignung von Bildung elementar sind. „Geistige Bildung braucht Ernst, Ehrfurcht, Mühe und Nachdenklichkeit“. An unseren heutigen Schulen muss man lange suchen, bis man noch Lehrkräfte findet, die ihren Schülern diese Einstellungen vermitteln.

Azubis scheitern an den Anforderungen der Berufsschule

Schlechte schulische Leistungen sind ein Handicap, das junge Menschen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden mit sich herumschleppen. Dies sieht man daran, dass vielen Schulabsolventen der Weg in die Berufsausbildung nicht gelingt. Im Jahr 2020 brachen laut Berufsbildungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2022) 25,1 Prozent der Lehrlinge ihre Ausbildung ab. Wenn man davon ausgeht, dass etliche der Abbrecher beim Wechsel in einen anderen Beruf erfolgreich sind, bleiben nach Auskunft des Arbeitsmarkt-Experten Stefan Sell zehn Prozent der Jugendlichen, die keine Ausbildung zu Ende bringen und als Ungelernte auf dem Arbeitsmarkt landen. Sie nennt Sell eine „Hochrisikogruppe“, weil sie es schwer haben, auf dem dynamischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Gründe sieht er vor allem darin, dass diese Azubis an den Anforderungen der Berufsschule scheitern. „Sie können heute einen Mechatroniker im Autobereich nicht mehr mit dem alten Kfz-Schrauber vergleichen. Das gilt aber für ganz viele, eigentlich alle Handwerksberufe, dass dort aufgrund der technologischen Entwicklung auch die Anforderungen, zum Beispiel an Mathematik und so weiter, deutlich gestiegen sind.“ (Sell) Das Versagen der Auszubildenden in Mathematik muss uns nicht wundern, nahmen doch die Mathe-Leistungen der Schüler in den letzten Jahren ebenso deutlich ab wie die Leistungen in Deutsch. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) beklagt schon seit Jahren, dass die Zahl der Schüler, die nicht ausbildungsfähig sind, unvermindert hoch sei. Schwächen gebe es vor allem in den beiden Hauptfächern Deutsch und Mathematik, wo oft nicht einmal elementare Kenntnisse vorhanden seien. In Zeiten akuten Fachkräftemangels ist es offensichtlich, dass die zu Tage tretenden schulischen Defizite der Wirtschaft schaden.

Eklatante Bildungsdefizite bei Menschen mit Migrationsgeschichte

Seit den 1980er Jahren hat sich in der Politik die Auffassung durchgesetzt, dass Deutschland zum Einwanderungsland werden müsse, weil anders der demografische Wandel nicht abzufedern sei. Dieses Postulat setzt aber voraus, dass die zu uns kommenden Menschen leicht in den Arbeitsmarkt integrierbar sind, dass sie also nicht von staatlichen Sozialtransfers leben müssen. Ein Blick auf die Erwerbsstatistik ergibt ein ernüchterndes Bild. Gegenüber einer Erwerbsquote der gesamten Bevölkerung von 70 Prozent beträgt sie bei Ausländern nur 54 Prozent und bei den seit 2015 ins Land gekommenen Zuwanderern nur 42 Prozent. Schaut man sich die Berufsfelder an, in denen Migranten tätig sind, so sind es überwiegend einfache Helfertätigkeiten, was darauf schließen lässt, dass ihnen die für anspruchsvollere Jobs nötigen Qualifikationen fehlen.

Der 12. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2019) zeigte deutliche Unterschiede bei den formalen Schulabschlüssen zwischen Kindern aus deutschen und ausländischen Familien. Betrug im Jahr 2017 der Anteil deutscher Schüler ohne Schulabschluss 5,7 Prozent, war er bei Schülern mit Migrationshintergrund fast dreimal so hoch (15,3 Prozent). Machten von den deutschen Schülern 28,2 Prozent Abitur, betrug die Abiturquote bei Schülern mit Migrationshintergrund nur 19,4 Prozent. Die Studie des Statistischen Bundesamtes „Bildungsbeteiligung nach Migrationshintergrund“ (2021) kam zu dem Ergebnis, dass die Bildungsdefizite bei Menschen, die im Alter von unter 19 Jahren zugezogen sind, deutlich größer sind als bei den Gleichaltrigen, die in Deutschland geboren sind: „Sie verfügen zu 55 % weder über einen beruflichen Abschluss noch eine Hochschulreife und lediglich zu 16 % über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Anteil von Menschen ohne beruflichen Abschluss und ohne Hochschulreife liegt mit 35 % höher als bei Menschen ohne Migrationshintergrund (22 %).“

Massenmigration mit Folgen

Diese Daten lassen nur einen Schluss zu: Ungesteuerte Migration verstärkt die Bildungsdefizite, die die Schüler mit Einwandergeschichte ohnehin schon haben, deutlich – mit negativen wirtschaftlichen Folgen. Die Zugewanderten werden weder das Fachkräfteproblem in Industrie, Handwerk und Dienstleistung lösen noch in nennenswerter Weise zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beitragen. Viele werden ihr Leben lang von staatlichen Transferleistungen leben müssen. Die Frustration über solche Misserfolge wird sich in aggressivem Verhalten entladen. Hier bewahrheitet sich die These des britischen Migrationsforschers Paul Collier („Exodus“, 2014), wonach ungesteuerte massenhafte Einwanderung „das Sozialkapital der einheimischen Bevölkerung verringert“. Damit meint der Forscher die Bereitschaft zur Kooperation der ethnischen Gruppen mit der Mehrheitsgesellschaft, gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt vor der Kultur des Aufnahmelandes. Je niedriger der Bildungsgrad der Zugewanderten ist, desto stärker werden universelle Werte in Frage gestellt, die die Kultur des Westens prägen. Irgendwann wird unsere Gesellschaft an den Punkt gelangen, wo Wirtschaftskraft und sozialer Zusammenhalt unter der Disruption leiden, die die Masseneinwanderung erzeugt. Durch die Bildungsstudie wurde ein Problem offensichtlich, das politische Korrektheit bislang gut zu verbergen wusste. Eine immer diversere Schülerschaft kann mit den herkömmlichen didaktischen Methoden offensichtlich nicht mehr so unterrichtet werden, dass ihre Leistungen den von der KMK beschlossenen Bildungsstandards genügen. Diese Botschaft muss alle beunruhigen, denen die berufliche Zukunft unserer Kinder am Herzen liegt. Ich sehe nur einen Ausweg aus der Bildungsmisere: Das Dogma der diversen Schülermischung in den Schulklassen muss aufgegeben werden. Sinnvoll wäre es, wenn das Lernen künftig wieder in begabungsgerechten Lerngruppen stattfände. Die Frage wird sein, ob die Politik die Kraft für eine solche „pädagogische Zeitenwende“ aufbringt.

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Antisemitismus in der Schule

Die jüngste Zuspitzung des Nahostkonflikts hat offenbart, dass unter den arabischen Bewohnern unserer Großstädte radikale Sympathisanten der Hamas leben, die selbst die brutalsten Massaker an israelischen Zivilisten bejubeln. Auch in unseren Schulen ist der Israelhass angekommen. Im Geschichtsunterricht ist es kaum noch möglich, historische Tatsachen ohne Schülerproteste zu unterrichten.

Veröffentlicht am 12. 11. 2023 auf CICERO-online

Nach dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gab es in deutschen Städten Sympathiebekundungen von Hamas-Sympathisanten. Besonders aggressiv traten sie in Berlin-Neukölln auf, wo Ableger der Hamas, der Hisbollah und des Islamischen Dschihad fest in der arabischen Community verankert sind. Sie brandmarkten die Vergeltungsschläge der israelischen Armee als Genozid, um die Emotionen der Muslime zu entfachen. Auch Jugendliche ließen sich von dieser Stimmung anstecken und trugen den Protest in die Schulen. Am Ernst-Abbe-Gymnasium in der Berliner Sonnenallee kam es zu einem gewalttätigen Zwischenfall. Als ein 15-jähriger Schüler mit arabischen Wurzeln mit einer Palästinenserflagge auf dem Schulhof erschien, stellte sich ihm ein 61-jähriger Lehrer entgegen. Er forderte ihn auf, die Fahne in seinen Rucksack zu packen. Darauf versetzte der Schüler dem Lehrer einen Kopfstoß, woraus sich eine körperliche Auseinandersetzung entwickelte, die erst durch das Einschreiten Dritter beendet werden konnte. Am 1. November bildeten etwa 100 Schüler dieses Gymnasiums auf der Sonnenallee einen Protestmarsch, dem sie ein Banner mit der Losung „Schulen in den Widerstand für die Freiheit Palästinas“ vorantrugen. Es ist offensichtlich, dass sich hier eine Front muslimischer Schüler unterschiedlichster nationaler Herkunft zusammengefunden hatte. Da sich in den letzten Wochen auch an anderen Berliner Schulen bei muslimischen Schülern eine aggressive Stimmung zeigte, sah sich die Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) veranlasst, in einem Rundschreiben darzulegen, wo die Grenze zwischen pädagogisch gebotenen inhaltlichen Diskussionen über den aktuellen Nahostkonflikt und der Verherrlichung von Kriegsgräueln verläuft.

Wie der Nahostkonflikt in unsere Schulen einwanderte

Als ich Mitte der 1970er Jahre meine erste Lehrerstelle antrat, war im Geschichtsunterricht die Diskussion über den Nahostkonflikt genauso störungsfrei möglich wie die Besprechung des Ersten Weltkriegs oder der Kuba-Krise. Es gab keine Gefühlsaufwallungen von Seiten muslimischer Schüler und auch keine aggressive Parteinahme für die Palästinenser. Das lag sicher daran, dass es damals in unseren Schulen kaum Schüler mit arabischen Wurzeln gab. Die große Mehrzahl muslimischer Schüler hatte eine türkische Einwanderergeschichte. Und diese entwickelten damals keine besondere Sympathie für die „palästinensische Sache“. Sie staunten sogar, als ich ihnen erzählte, dass Palästina einmal zum Osmanischen Reich gehört habe, aus dem nach dem Ersten Weltkrieg auch die moderne Türkei hervorgegangen war. Die Stimmung im Geschichtsunterricht veränderte sich schlagartig nach dem Terroranschlag von Al-Qaida auf das World-Trade-Center in New York am 11. September 2001. Der von den USA anschließend geführte „Krieg gegen den Terror“, an dem sich auch andere demokratische Staaten beteiligten, weckte bei den Muslimen eine Abwehrhaltung, die bei einer Minderheit in eine aggressive Frontstellung gegen die westliche Lebensart überging. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus war geboren. Es konnte nicht ausbleiben, dass der Nahostkonflikt dem Deutungsmuster unterworfen wurde, hier kämpfe der vom Westen hochgerüstete Apartheid-Staat Israel gegen eine in Elend und Subalternität gehaltene palästinensische Bevölkerung. Die internationale Linke schloss sich dieser Deutung des Konflikts als Teil des „weltweiten antiimperialistischen Kampfes“ an. Im Geschichtsunterricht schlugen mitunter die Wogen hoch.  Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie muslimische Schüler im Unterricht das Israel-Heft der „Informationen zur politischen Bildung“ demonstrativ zerrissen, weil sie darin nur „israelische Propaganda“ sahen. Dabei sind diese Unterrichtsmaterialien an Ausgewogenheit der Standpunkte kaum zu übertreffen.

Schwere Zeiten für Fakten

Selbst im Oberstufenunterricht war es nur schwer möglich, unumstößliche Fakten störungsfrei zu vermitteln. Die Heißsporne unter den Schülern wollten sich ihr Weltbild, an dem ihre Identität hing, nicht zerstören lassen. Ich ließ nichts unversucht. Ich lud einen Professor für Orientalistik in meinen Unterricht ein. Er erklärte den Schülern die komplizierte Siedlungsgeschichte in dem Gebiet, das wir heute Palästina nennen. 1000 vor Chr. habe der Jude David, den wir aus dem Alten Testament der Bibel kennen, aus den zwölf jüdischen Stämmen ein Königreich geformt und Jerusalem zu dessen Hauptstadt gemacht. Einer der Stämme trug den Namen Israel. Er stand bei der Benennung des jungen Staates Israel bei seiner Gründung im Mai 1948 Pate. Arabische Siedlungen habe es in der Frühzeit Palästinas auch schon gegeben. Die meisten der heutigen arabischen Bewohner seien allerdings erst im 19. Jahrhundert eingewandert, weil sie dem Bevölkerungsdruck in den Nachbarländern entgehen wollten. Die heutigen Israelis setzen sich aus den Nachfahren des ehemaligen jüdischen Königreichs und aus Zuwanderern zusammen, die ab Ende des 19. Jahrhunderts vor allem aus osteuropäischen Ländern eingewandert waren. Nachdem der 1. Zionistische Weltkongress in Basel (1897) die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina beschlossen hatte, verstärkte sich der Zustrom von Juden enorm. Für meine arabischen Schüler waren diese Informationen nur schwer zu ertragen. Sie unterbrachen den Referenten mehrfach, indem sie ihn der Lüge bezichtigten. Sie hatten erkannt, dass diese Informationen das von den palästinensischen Organisationen verbreitete Narrativ, die Araber seien seit Urzeiten die einzig legitimen Einwohner Palästinas, in Frage stellten. Mir wurde klar, dass die Sichtweise, die diese Schüler auf den Nahostkonflikt hatten, so tief verwurzelt und emotional so stark aufgeladen war, dass ihr mit der Präsentation von Tatsachen kaum beizukommen war.

Häme über den Holocaust

Eine neue Qualität erreichten die Auseinandersetzungen im Geschichtsunterricht nach dem Gaza-Krieg im Sommer 2014. Die Entführung und Ermordung von drei israelischen Teenagern durch die Hamas hatte zu einem siebenwöchigen Krieg geführt, in dem mehr als 2.100 Palästinenser im Gazastreifen und 73 Israelis getötet wurden, darunter 67 Soldaten. Der Krieg wurde auch in den sozialen Medien geführt. Schüler tauschten Videos aus, die die vermeintlichen Gräuel der israelischen Armee in Gaza zeigen sollten. Dass die Hamas den Krieg ausgelöst hatte, spielte für die parteiischen Schüler keine Rolle. Damals wurde der Slogan „Kindermörder Israel“ geboren. Auch im Unterricht erreichte der Israelhass eine neue Qualität. Als ich in der 9. Klasse den Holocaust unterrichtete, erntete ich hämische Kommentare von Seiten arabischer Schüler: „Geschieht den Juden recht“ und „Das müsste man wiederholen“. Ich habe Lehrkräfte erlebt, die aus Erschütterung über solche Kommentare den Holocaust im Unterricht nie mehr besprochen haben. Die Verächtlichmachung des Holocaust-Gedenkens, dem sich Deutschland aus historischer Verantwortung verschrieben hat, folgt einer simplen Logik. Arabische Schüler wissen, dass die bedingungslose Solidarität der deutschen Regierung mit Israel aus der historischen Schuld resultiert, die unser Land mit der Shoa auf sich geladen hat. Wenn es gelänge, die Erinnerungskultur zu erschüttern, geriete auch unsere Solidarität mit dem Staat Israel ins Wanken. Ich habe aber auch muslimische Schüler erlebt, die den Holocaust leugneten. Sie erzählten in der Klasse, die Juden hätten die Shoa erfunden, um weltweit Mitleid zu erregen und dadurch „ihre eigenen Verbrechen am palästinensischen Volk“ zu kaschieren. Auch die Logik dieser Argumentation ist leicht durchschaubar:  Wenn es den Holocaust gar nicht gegeben hat, sind die Palästinenser die einzigen legitimen Opfer im Nahostkonflikt.

Planspiel Staatsgründung

Planspiele im Geschichtsunterricht durchzuführen, ist eine sehr wirkungsvolle Methode, um Schülern historische Handlungsoptionen vor Augen zu führen. Da ich wusste, dass meine Schüler über die Gründung des Staates Israel keinerlei Vorkenntnisse hatten, entwickelte ich dazu folgendes Planspiel: „Die Vereinten Nationen möchten den Konflikt zwischen Arabern und Juden in Palästina schlichten und eine Lösung für ein friedliches Zusammenleben finden. Wie könnte sie aussehen?“ Die Mehrzahl der Schüler kam auf die Idee, beiden Gruppen die Gründung eines eigenen Staates zu ermöglichen. Frappierend war, dass sich alle Schüler eine friedliche, gut nachbarschaftliche Beziehung der beiden Staaten ausmalten. Die Staaten trieben miteinander Handel und organisierten einen sportlichen und kulturellen Austausch. Sie reduzierten sogar die Ausgaben für ihr Militär, weil kriegerische Auseinandersetzungen nicht mehr zu erwarten seien. Die Schüler entwickelten eine Utopie, die tatsächlich hätte Wirklichkeit werden können, wenn die Araber 1947 das Angebot der UN nicht ausgeschlagen hätten. Ich erzählte den Schülern, dass die Juden das Angebot akzeptierten und 1948 den Staat Israel gründeten. Unbegreiflich war selbst für arabische Schüler, warum die Palästinenser, die heute lautstark einen eigenen Staat fordern, einen solchen damals ablehnten. Sie konnten sich einen solchen historischen Fehler nicht erklären. Aus historischen Dokumenten erarbeiten wir den Grund: Die palästinensischen Führer waren der Meinung, dass ihnen ganz Palästina zustehe. Für einen israelischen Staat war in ihrem Denken kein Platz. Das ist der Grund, weshalb Israel seine Unabhängigkeit in mehreren ihm von den arabischen Nachbarstaaten aufgezwungenen Kriegen verteidigen musste. Israel ist der einzige Staat aller 193 Staaten der Vereinten Nationen, dem das Existenzrecht von anderen UN-Mitgliedsstaaten bis heute abgesprochen wird. Die palästinensischen Autoritäten haben sich bis heute nicht zu ihrem damaligen Versagen bekannt. Stattdessen schüren sie die Illusion, sie könnten Israel mit Gewalt auslöschen, um das ganze Land in Besitz zu nehmen.

Antisemitische Ressentiments von links

Am Gymnasium, dem Ort des rationalen Diskurses, gibt es neben dem Antisemitismus muslimischer Schüler auch antijüdische Ressentiments von links. Aus dem Munde von Kindern aus bildungsbürgerlichen, linksliberalen Elternhäusern muten sich antiisraelische Affekte befremdlich an. Wenn man sich auf ihre Argumente einlässt, stößt man schnell auf den Kern ihrer feindseligen Haltung gegenüber dem Staat Israel. Sie werfen ihm vor, die Menschenrechte zu verletzen, indem er die Palästinenser in den besetzten Gebieten unterdrücke. Während arabische Schüler Israel als „Kindermörderland“ verunglimpfen, argumentieren deutsche Schüler differenzierter, weil sie wissen, dass Judenhass in Deutschland ein Tabu darstellt: „Gegen die Juden in Deutschland habe ich nichts, aber wie sich die Israelis in Palästina aufführen…“. Als der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Jahr 2012 Israel als „Apartheid-Regime“ bezeichnete, pflichteten ihm nicht wenige Schüler bei: „Endlich mal einer, der es wagt, die Wahrheit zu sagen…“.

Psychische Entlastung von der Schuld der Väter

Die Israel-Kritik deutscher Schüler hat, wie mir eine Psychologin erklärte, auch eine psychologische Komponente, die etwas mit dem Holocaust zu tun hat. Wenn junge Menschen zum ersten Mal das Grauen der Judenvernichtung in Auschwitz wahrgenommen haben, sind sie zutiefst schockiert und verunsichert. Wenn dann noch davon die Rede ist, dass dieses Menschheitsverbrechen für immer mit dem deutschen Namen verbunden sei, regt sich bei ihnen ein innerer Widerstand. Sie können es nur schwer ertragen, sich für ein singuläres Menschheitsverbrechen in Haftung genommen zu fühlen, das über 75 Jahre zurückliegt und für das sie – die dritte Generation nach dem Holocaust – nichts können. Es ist schwer, diesen jungen Menschen den Unterschied zwischen Schuld, die immer persönlicher Natur ist, und Verantwortung, die auf einem ganzen Volk lastet und nie endet, zu erklären. Das fällt umso schwerer, als es immer wieder Wortmeldungen von Politikern und Intellektuellen gibt, die von Geschichtsblindheit geprägt sind und sich auch im Ton vergreifen. Der Schriftsteller Martin Walser sprach in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 von der „Moralkeule Auschwitz“, die von jüdischer Seite als „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel“ benutzt werde. Er verwahrte sich gegen die „Monumentalisierung der Schande“.  Ähnliche Worte benutzte der Rechtsaußen der AfD, Björn Höcke, als er das Holocaust-Denkmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete. Schülern fällt es schwer, die Singularität der deutschen Schuld zu akzeptieren, weil dies ihre patriotischen Gefühle verletzt. Zur Entlastung zählen sie dann gerne die Verbrechen auf, die auf dem Schuldkonto anderer Nationen lasten: Weiße Einwanderer hätten die Indianer Amerikas ausgerottet, Engländer im Kolonialkrieg Gräuel begangen, Russen das grausame    Gulag-System erfunden. Von Kindern kennt man die Ausrede, wenn sie bei etwas Unrechtem ertappt werden: „Aber der Ronny hat auch…“ – Psychologen nennen diesen Mechanismus Schuldentlastung durch Schuldzuweisung. Gerade Schüler mit einem großen Gerechtigkeitsempfinden neigen dazu, die Verbrechen der Weltgeschichte gerecht unter den Nationen aufzuteilen. Ich glaube nicht, dass die jungen Menschen mit linksbürgerlicher Prägung, die heute im Unterricht Israel kritisieren, genuin antisemitische Gefühle hegen. Dazu sind sie in Habitus und persönlichem Umgang   viel zu weltoffen und tolerant.  Ihre Kritik an den Juden gilt dem Staat, der als Wiedergutmachung für die versuchte Auslöschung des jüdischen Volkes entstanden ist.  Die leidvolle Existenz des Staates Israel ist für sie der Stachel, der die Erinnerung an deutsche Verbrechen ewig wachhält. Das erklärt auch den Slogan „Befreit Palästina von der deutschen Schuld“, den linke Studenten gerne benutzen. Dass sie dabei die Schuldkult-Kritik der Rechten kopieren, ficht sie nicht an.

Versagen eines Schulleiters

2017 ereignete sich in der Gemeinschaftsschule in Berlin-Friedenau ein krasser Fall von Antisemitismus. Ein 14-jähriger jüdischer Junge wurde von muslimischen Mitschülern wegen seiner Religionszugehörigkeit vier Monate lang so heftig gemobbt und körperlich attackiert, dass er die Schule für immer verließ. Die aggressiven Schüler machten ihn für die Politik Israels gegenüber den Palästinensern verantwortlich, als sie zu ihm sagten: „Juden sind alle Mörder“. Um die Bösartigkeit dieser Beleidigung zu erfassen, muss man wissen, dass die Großeltern des Schülers den Holocaust überlebt haben und wieder in Berlin leben. Der Vater des Schülers machte der Schulleitung schwere Vorwürfe: „Die Schulleitung hat überhaupt nicht reagiert. Wir haben ja nicht einmal einen Termin für ein Gespräch bekommen, obwohl das Mobbing sofort losging, als unser Sohn (…) in die Schule kam.“ Bei vielen Schulleitern hat sich die Haltung eingeschlichen, Mobbingfälle an der eigenen Schule unbedingt unter den Teppich kehren zu wollen. Die Lehrkräfte werden zum Schweigen verpflichtet, damit der Ruf der Schule nicht leidet, wenn die unliebsamen Vorfälle an die Öffentlichkeit dringen. Einer solchen Vertuschungstaktik sollten die Kultusminister einen Riegel vorschieben. Die Schulleitungen sollten verpflichtet werden, alle Vorfälle, die etwas mit der ethnischen oder religiösen Diskriminierung von Schülern zu tun haben, zu melden. Für rassistisch begründete Übergriffe haben die Bundesländer Meldeportale geschaffen. Antisemitische Vorfälle kann man gesondert bei den „Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus“ (Rias) melden. Problematisch reagierten die Eltern der Friedenauer Gemeinschaftsschule. Sie beklagten die ihrer Meinung nach „einseitige Art der Berichterstattung“, die sich „nachhaltig rufschädigend für eine äußerst engagierte Schule auswirkt.“ Hätte der Schulleiter den Vorfall also doch verschweigen sollen? Die verstörende Pointe der Geschichte: Die Friedenauer Gemeinschaftsschule gehört seit 2016 zum Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Einen schlechteren Start in eine diskriminierungsfreie Schule hätte es für sie nicht geben können.

An den gymnasialen Tugenden festhalten

Was tun? Als Pädagoge darf man die Flinte nie vorschnell ins Korn werfen. Für sachliche Aufklärung und rationale Argumentation im Unterricht gibt es keine Alternative.  Geschichtslegenden sollten die Lehrkräfte mit historischen Tatsachen begegnen. Der Ausgrenzung missliebiger Schüler müssen sie Einhalt gebieten, indem sie auf die humanistische Grundlage unserer freiheitlichen Ordnung verweisen. In schwerwiegenden Fällen hilft das Disziplinarrecht. Lehrkräfte sollten nicht resignieren, sondern auf die Wirksamkeit der gymnasialen Lernkultur vertrauen.  Ich hatte in der Vergangenheit in meinen Abiturkursen heftige Debatten mit Hausbesetzern, Greenpeace-Aktivisten, Linksautonomen und Klima-Rebellen zu bestehen und habe es als Erfolg verbucht, wenn sie schließlich einsahen, dass Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele selten zum Erfolg führt. Auch internationale Konflikte wurden schließlich friedlich beigelegt, weil die Kontrahenten nach mehreren Kriegen zu der Erkenntnis gelangt waren, dass die Gewaltspirale den Menschen nur Unglück gebracht hat. Am Beispiel der deutsch-französischen Freundschaft können auch arabische Schüler lernen, wie zwei Erzfeinde, die sich in vier Kriegen bekämpft haben, schließlich zu Freunden geworden sind.

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Grammatik für Fortgeschrittene  (2)

Das Kreuz mit dem Partizip

Von Rainer Werner

Die Gendersprache kennt viele Varianten. Am bekanntesten wurde die Umgehung des anstößigen Generischen Maskulinums („die Lehrer“) durch die ausschließliche Verwendung der weiblichen Form „die Lehrerinnen“. Um den diversen anderen Geschlechtern, die es nach Meinung der Genderaktivistinnen gibt, gerecht zu werden, wurden Markierungszeichen wie der Gendergap („Student_innen“) oder der Genderstern („Fotograf*innen“) eingeführt. Die Sternvariante hat die größte Verbreitung gefunden. Der Berliner Senat hat schon vor Jahren den Genderstern als offizielle Sprachnorm im amtlichen Schriftverkehr – also auch an den Schulen – eingeführt.

Eine beliebte Variante „geschlechtersensiblen Sprechens“ besteht darin, bei Gattungsbegriffen, die im Deutschen männlich sind („der Student“), auf neutrale Formen zurückzugreifen. Besonders beliebt sind dabei Partizipialformen: „Lehrende“ statt Lehrer, „Dozierende“ statt Dozenten, „Zu Fuß gehende“ statt Fußgänger. Die Straßenverkehrsordnung hat sich als besonders beflissen erwiesen, als sie herkömmliche Bezeichnungen durch eine Fülle von sperrigen Partizipialformen ersetzte: „Rad Fahrende“, „Fahrzeugführende“, „Mofa Fahrende“, „am Verkehr Teilnehmende“. Selbst die „Fußgehendebrücke“ wurde in den Sprachschatz aufgenommen.

Nach meiner Erfahrung gibt es die meisten Ungereimtheiten bei der Verwendung des Partizips Präsens anstatt des geläufigen Gattungsbegriffs. In einem Beitrag für die „Berliner Abendschau“, eine Lokalsendung des rbb, berichtete ein Reporter über eine schräge Werbekampagne der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG. Dabei sagte er: „1.400 Mitarbeitende hat die BVG in diesem Jahr schon für sich gewinnen können.“ Der Zuschauer der Sendung fragte sich: Nanu! Wie ist das möglich? Stellt die BVG jetzt ihre Mitarbeiter ein zweites Mal ein? Bekommen die „Mitarbeitenden“ jetzt einen neuen, besser dotieren Arbeitsvertrag? Eine Reporterin desselben Senders sagte in einem Beitrag: „Mitarbeitende befinden sich in einem Warnstreik“. Ja was denn nun? Streiken sie oder arbeiten sie weiter mit? Solche Ungereimtheiten passieren, wenn man statt des Gattungsbegriffs „Mitarbeiter“ das Partizip Präsens „Mitarbeitende“ benutzt, was beileibe nicht dasselbe bedeutet.

Auf welch dünnen Krücken das Partizip Präsens steht, erkennt man zudem, wenn man von „Mitarbeitenden“ die Einzahl bildet. Dann heißt es nämlich „der Mitarbeitende“. Man landet also wieder in der männlichen Form, die man ja gerade vermeiden wollte. Wenn man aber „die Mitarbeitende“ sagt, schließt man männliche Bewerber aus, was diskriminierend wäre, weil für alle Stellenausschreibungen per Gesetz gilt: m / w / d. Die Lösung ist einfach: Im Generischen Maskulinum sind die Vertreter beider Geschlechter enthalten.

An den Universitäten hat sich der Begriff „Studierende“ für Studenten durchgesetzt – freilich nur im Plural (aus den besagten Gründen). Bei der Partizipialform wird übersehen, dass ein Studierender nicht dasselbe ist wie ein Student. Wenn ein Student mit seinen Kommilitonen in der Kneipe sitzt, ist er kein Studierender mehr (seine momentan ausgeübte Tätigkeit ist das Trinken). Er bleibt aber ein Student (weil dies seinen generellen Status benennt). Wenn er die Speisekarte studiert, wird er vorübergehend zum „Studierenden“. Die ehemalige grüne Verkehrssenatorin von Berlin Regine Günther gab in einer Presseerklärung bekannt, dass es in Berlin im Jahr 2020 „einundzwanzig tote Radfahrende“ gegeben habe. Man traut den Grünen ja einiges zu. Dass sie aber Tote zum Leben erwecken können, übersteigt dann doch unsere Vorstellungskraft. In einer Zeitungsschlagzeile war zu lesen: „Drei tote Radfahrende durch LKW“. Christen schreiben solche Wunder eigentlich nur Jesus Christus zu. Die Wahlbehörde eines Bundeslandes vermeldete: „Viele Wählende blieben zu Hause“. Diese Menschen waren offenbar zugleich an zwei Orten – ein Beweis für die Gültigkeit der Quantentheorie? Der Sprachforscher Fabian Payr schreibt dazu in seinem Bestseller „Von Menschen und Mensch*innen“: „Das Bemühen, Sprache geschlechtergerecht umzugestalten, führt hier nicht nur zu einem Verlust an sprachlicher Präzision, sondern regelrecht zu sprachlichem Nonsens.“  Wenn Schüler solchen Nonsens-Formulierungen ständig ausgesetzt sind, leidet ihr grammatisches Gespür. Dieses ist aber notwendig, um die Komplexität unseres grammatischen Systems geistig zu durchdringen. Im Grunde schadet die Wurstigkeit und Sorglosigkeit, mit der die Gender-Adepten falsche Sprachformen erfinden, dem Sprachgefühl unserer Schüler.

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