Grammatik für Fortgeschrittene  (2)

Das Kreuz mit dem Partizip

Von Rainer Werner

Die Gendersprache kennt viele Varianten. Am bekanntesten wurde die Umgehung des anstößigen Generischen Maskulinums („die Lehrer“) durch die ausschließliche Verwendung der weiblichen Form „die Lehrerinnen“. Um den diversen anderen Geschlechtern, die es nach Meinung der Genderaktivistinnen gibt, gerecht zu werden, wurden Markierungszeichen wie der Gendergap („Student_innen“) oder der Genderstern („Fotograf*innen“) eingeführt. Die Sternvariante hat die größte Verbreitung gefunden. Der Berliner Senat hat schon vor Jahren den Genderstern als offizielle Sprachnorm im amtlichen Schriftverkehr – also auch an den Schulen – eingeführt.

Eine beliebte Variante „geschlechtersensiblen Sprechens“ besteht darin, bei Gattungsbegriffen, die im Deutschen männlich sind („der Student“), auf neutrale Formen zurückzugreifen. Besonders beliebt sind dabei Partizipialformen: „Lehrende“ statt Lehrer, „Dozierende“ statt Dozenten, „Zu Fuß gehende“ statt Fußgänger. Die Straßenverkehrsordnung hat sich als besonders beflissen erwiesen, als sie herkömmliche Bezeichnungen durch eine Fülle von sperrigen Partizipialformen ersetzte: „Rad Fahrende“, „Fahrzeugführende“, „Mofa Fahrende“, „am Verkehr Teilnehmende“. Selbst die „Fußgehendebrücke“ wurde in den Sprachschatz aufgenommen.

Nach meiner Erfahrung gibt es die meisten Ungereimtheiten bei der Verwendung des Partizips Präsens anstatt des geläufigen Gattungsbegriffs. In einem Beitrag für die „Berliner Abendschau“, eine Lokalsendung des rbb, berichtete ein Reporter über eine schräge Werbekampagne der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG. Dabei sagte er: „1.400 Mitarbeitende hat die BVG in diesem Jahr schon für sich gewinnen können.“ Der Zuschauer der Sendung fragte sich: Nanu! Wie ist das möglich? Stellt die BVG jetzt ihre Mitarbeiter ein zweites Mal ein? Bekommen die „Mitarbeitenden“ jetzt einen neuen, besser dotieren Arbeitsvertrag? Eine Reporterin desselben Senders sagte in einem Beitrag: „Mitarbeitende befinden sich in einem Warnstreik“. Ja was denn nun? Streiken sie oder arbeiten sie weiter mit? Solche Ungereimtheiten passieren, wenn man statt des Gattungsbegriffs „Mitarbeiter“ das Partizip Präsens „Mitarbeitende“ benutzt, was beileibe nicht dasselbe bedeutet.

Auf welch dünnen Krücken das Partizip Präsens steht, erkennt man zudem, wenn man von „Mitarbeitenden“ die Einzahl bildet. Dann heißt es nämlich „der Mitarbeitende“. Man landet also wieder in der männlichen Form, die man ja gerade vermeiden wollte. Wenn man aber „die Mitarbeitende“ sagt, schließt man männliche Bewerber aus, was diskriminierend wäre, weil für alle Stellenausschreibungen per Gesetz gilt: m / w / d. Die Lösung ist einfach: Im Generischen Maskulinum sind die Vertreter beider Geschlechter enthalten.

An den Universitäten hat sich der Begriff „Studierende“ für Studenten durchgesetzt – freilich nur im Plural (aus den besagten Gründen). Bei der Partizipialform wird übersehen, dass ein Studierender nicht dasselbe ist wie ein Student. Wenn ein Student mit seinen Kommilitonen in der Kneipe sitzt, ist er kein Studierender mehr (seine momentan ausgeübte Tätigkeit ist das Trinken). Er bleibt aber ein Student (weil dies seinen generellen Status benennt). Wenn er die Speisekarte studiert, wird er vorübergehend zum „Studierenden“. Die ehemalige grüne Verkehrssenatorin von Berlin Regine Günther gab in einer Presseerklärung bekannt, dass es in Berlin im Jahr 2020 „einundzwanzig tote Radfahrende“ gegeben habe. Man traut den Grünen ja einiges zu. Dass sie aber Tote zum Leben erwecken können, übersteigt dann doch unsere Vorstellungskraft. In einer Zeitungsschlagzeile war zu lesen: „Drei tote Radfahrende durch LKW“. Christen schreiben solche Wunder eigentlich nur Jesus Christus zu. Die Wahlbehörde eines Bundeslandes vermeldete: „Viele Wählende blieben zu Hause“. Diese Menschen waren offenbar zugleich an zwei Orten – ein Beweis für die Gültigkeit der Quantentheorie? Der Sprachforscher Fabian Payr schreibt dazu in seinem Bestseller „Von Menschen und Mensch*innen“: „Das Bemühen, Sprache geschlechtergerecht umzugestalten, führt hier nicht nur zu einem Verlust an sprachlicher Präzision, sondern regelrecht zu sprachlichem Nonsens.“  Wenn Schüler solchen Nonsens-Formulierungen ständig ausgesetzt sind, leidet ihr grammatisches Gespür. Dieses ist aber notwendig, um die Komplexität unseres grammatischen Systems geistig zu durchdringen. Im Grunde schadet die Wurstigkeit und Sorglosigkeit, mit der die Gender-Adepten falsche Sprachformen erfinden, dem Sprachgefühl unserer Schüler.

Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Grammatik für Fortgeschrittene  (2)

  1. Fr. Fröhlich

    Eine brillante wie amüsante grammatische Analyse, die das Absurde im ursprünglich gut Gemeinten offenlegt. 🙂 Danke

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