Lernen mit Konfuzius

       Erschienen in der Tageszeitung DIE WELT vom 4. 9. 2019

 In Schulen hierzulande erzielen asiatische Kinder den größten Erfolg. Sie könnten Einheimischen und Zuwanderern als Vorbild dienen. Das Problem: Bei uns ist Spaß die wichtigste pädagogische Kategorie.

In den Klassenzimmern unserer Schulen sitzen  Schüler mit fremdländischen Wurzeln, die nie im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Sie schlagen  sich nicht auf dem Pausenhof, sind nicht aufsässig und verstoßen auch nicht  gegen die Regeln. Sie sind höflich, zuvorkommend und leistungsorientiert. Gemeint sind die Kinder asiatischer Eltern. In Deutschland leben zur Zeit 450.000 Menschen aus asiatischen Staaten.  Chinesen, Inder, Vietnamesen und Thais bilden unter ihnen die größten Gruppen. Oft habe ich im Lehrerzimmer  Kollegen  von asiatischen Schülern schwärmen hören, weil sie sich still und beharrlich, mit Fleiß und Ehrgeiz an die Leistungsspitze emporarbeiten. Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland schaffen 64 Prozent der vietnamesischen Kinder den Sprung aufs Gymnasium. Dieser Anteil ist um 11 Prozentpunkte höher als der Anteil der deutschen Schüler und  fünfmal so hoch wie bei türkischen Schülern.

Erziehungswissenschaftler, die über den Schulerfolg vietnamesischer Kinder in Deutschland forschen, betonen, dass es vor allem die bei uns nicht mehr hoch angesehenen Sekundärtugenden seien, die den Erfolg der Kinder verbürgen: Ordnung, Fleiß und Disziplin. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Vietnamesen einen Begriff wiederbelebt haben, der aus unserem  didaktischen Vokabular weitgehend verschwunden ist: Fleiß. Die moderne Didaktik betont, Unterricht müsse vor allem anregend sein,  Spaß machen. Die Eigenanstrengung beim Lernen blendet sie gerne  aus. Wenn Spaß die höchste pädagogische  Kategorie ist, drängt man die Lehrkraft in die Rolle des Entertainers und gibt letztlich ihm die Schuld, wenn der Schüler  bei der Klassenarbeit oder  Prüfung versagt. Darin liegt der Grund für die vielen Klagen, mit denen enttäuschte Eltern beim Schulleiter vorstellig werden.  Einem vietnamesischen Vater käme es nie in den Sinn, dem Mathematiklehrer vorzuwerfen, er habe seinen Sohn Hung  im Unterricht nicht ausreichend motiviert, weshalb er  eine Fünf geschrieben habe. Ich kann mich an die vietnamesische Schülerin Hoa  erinnern, die erst mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen war. In der 7. Klasse des Gymnasiums, in der ich sie in Deutsch unterrichtete, gehörte sie – inzwischen  13 Jahre alt – schon zu den Besten. In der Orthografie war sie nahezu fehlerfrei. Sie erklärte mir ihr  Erfolgsrezept. Die Familie hatte ihre deutsche Nachbarin, eine ältere Dame, gebeten, mit dem Mädchen jeden Tag zu üben. Sie schrieb unzählige kleine Diktate, bis sie das Regelsystem des Deutschen perfekt beherrschte. Welcher deutsche Schüler würde sich einer solchen Mühe unterziehen, um seine Rechtschreibschwächen auszubügeln?  In meiner Schulzeit hieß es noch: „Ohne Fleiß kein Preis!“ – In der Spaß- und Mediengesellschaft verhallt der  Appell an Fleiß und Anstrengung oft ungehört. Müssen wir von asiatischen Einwandererkindern wieder die Tugenden lernen, die uns in der Vergangenheit  ausgezeichnet haben?

Inzwischen gibt es  Studien, die sich mit der  Integration asiatischer Einwanderer   in  westliche Gesellschaften beschäftigen. Amerikanische Ökonomen  haben  herausgefunden, dass in den USA rund doppelt so viele Kubaner (65 Prozent) unter der Armutsgrenze leben wie Vietnamesen (35 Prozent). Dabei waren die Ausgangsbedingungen  – schlechte Sprachkenntnisse, niedrige Schulbildung – bei beiden Einwanderungsgruppen vergleichbar. Unter den Existenzgründern sind Asiaten überdurchschnittlich häufig vertreten. Wie kommt dieser Erfolg asiatischer Einwanderer zustande? Schlüssel ist auch hier der Erfolg in der  Schule. 2014 veröffentlichten die beiden Bildungsforscher Amy Hsin (Universität von New York) und Yu Xie (Universität Michigan)  eine Vergleichsstudie, in der sie untersuchten, wie  amerikanische und asiatische Kinder in der Schule abschneiden. Die Asiaten waren tatsächlich erfolgreicher. Da bei der Studie nur Schüler mit annähernd gleicher Intelligenz zum Zuge kamen und zudem der Bildungshintergrund der Eltern herausgerechnet wurde, blieben als Erfolgsrezepte nur Ehrgeiz und Anstrengung. Die Einwanderkinder arbeiteten hart, um die Schule erfolgreich zu meistern. Nur so konnten sie  im späteren Erwerbsleben sozial aufsteigen. Die Forscher haben herausgefunden, dass   sich beide Gruppen auch in ihrer Mentalität unterscheiden. Während amerikanische Eltern daran glauben, dass Intelligenz vererbt werde, waren die asiatischen Eltern davon überzeugt, dass Intelligenz trainiert und durch kontinuierliche Anstrengung gesteigert werden könne.

Auch in ihren Heimatländern sind die schulischen Erfolge asiatischer Kinder außergewöhnlich gut. Beim PISA-Vergleichstest der OECD von 2012, bei dem Mathematik den Schwerpunkt bildete, belegten sieben asiatische Länder die ersten Plätze. Erstaunlich war dabei der Aufstieg Vietnams.  Gleich bei ihrer ersten PISA-Teilnahme belegten Vietnams Schüler im Fach Mathematik hinter Deutschland (Platz 16) den 17. Platz. Damit  ließen sie Länder mit  großer Bildungstradition, die zudem ein Vielfaches für Bildung ausgeben, hinter sich: Frankreich (25), Vereinigtes Königreich (26), Italien (32). Das ist ein schöner Beleg dafür, dass mehr Geld nicht automatisch  bessere Bildung garantiert. Die Sekundärtugenden, zu denen die Schüler von ihren Lehrern angehalten werden,  verbürgen den Erfolg.

Da die asiatischen Einwanderer in allen Ländern, in denen sie eine zweite Heimat gefunden haben, gleichermaßen erfolgreich sind (USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, Schweiz), kann der Erfolg  nicht an den Bedingungen der aufnehmenden Länder liegen. Man kann annehmen, dass es Eigentümlichkeiten  der asiatischen Kultur gibt, die die Emigranten in jedes Land mitnehmen und dort weiterhin pflegen. Diese Prägung garantiert auch im Gastland den Erfolg. Von dem Soziologen Max Weber kennen wir die These, wonach die religiöse Prägung eines Landes den ökonomischen Prozess bestimmen  kann. Er sah in der protestantischen Ethik die Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus begründet. Im Denken von Martin Luther war der Beruf eine von Gott gestellte Aufgabe, die es zum Wohlgefallen Gottes möglichst gut auszuführen galt. In der Lehre Calvins kam noch ein besonderer Akzent hinzu. Calvin glaubte,  dass  man aus der Lebensführung und aus dem materiellen Erfolg des Menschen die Bevorzugung durch Gott ablesen könne, was zwangsläufig dazu führte, dass sich die Menschen bei der Erfüllung ihrer irdischen (beruflichen) Pflichten anstrengten, um sich der göttlichen Gnadenwahl  als würdig zu erweisen.  Die konfuzianisch-buddhistisch geprägte Kultur Asiens verlangt, dass der Mensch im Einklang mit dem Kosmos lebt. Dieses Postulat hat zur Folge, dass man sich harmonisch in die vorgegebene Gesellschaft einfügt und alles unternimmt, um deren Anforderungen optimal zu erfüllen: „Wo immer du bist, trage dazu bei, dass die Gemeinschaft in Harmonie lebt“ (Konfuzius). Den Weg zu  „Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ könne man am besten  durch Bildung erreichen. Aufschlussreich  ist auch ein chinesisches Sprichwort, das  in vielen anderen asiatischen Ländern populär ist: „Wenn du die Welt verbessern willst, so gehe einmal um dein  eigenes Haus“. Mit einer solchen Einstellung wird Integration in jedem Land der Welt gelingen.

Wenn Aufstieg durch Bildung  eine vom Glauben  vorgegebene Verpflichtung darstellt,  erklärt sich auch, weshalb vietnamesische Eltern ihren schulpflichtigen Kindern jede erdenkliche Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen. Mir erzählte eine vietnamesische Schülerin, wie ihre Eltern darauf reagierten, als sie die Aufnahme ins Gymnasium geschafft hatte. Sie räumten  in der Wohnung den besten Platz für ihren Schreibtisch frei. Außerdem wurde sie von allen häuslichen Pflichten, wie Einkaufen, Abwaschen, Müllentsorgung, entbunden, damit  sie sich voll auf  die Schule konzentrieren  kann. Dass eine solche  Erwartungshaltung der Eltern  auch einen seelischen Druck auf die Kinder ausüben kann, ist  nicht völlig  auszuschließen. Ich habe jedoch nie erlebt, dass vietnamesische Schüler deswegen  in eine psychische Krise geraten  wären. Sie strahlten das Glück derer aus, denen es gelungen ist,  etwas Großartiges zu leisten. Mit dem Leistungsprinzip hat man bei vietnamesischen Schülern keinerlei Probleme.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Eingeordnet unter Der richtige Umgang mit Schülern, Leistungsbereitschaft, Migrantenkinder in der Schule, Sozialer Aufstieg durch Bildung, Verantwortung der Eltern

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