Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT vom 28. 01. 2020
Kinder mit Migrationshintergrund sind in unserem Schulsystem benachteiligt, dabei ist Bildung die wichtigste Voraussetzung für das spätere Berufsleben. Das erfordert mutige Maßnahmen.
Als am Himmelfahrtstag 2018 die ehrwürdige Harvard-Universität in Boston die Graduierten verabschiedete, hielten drei Studenten des Jahrgangs die Abschiedsreden. Es waren eine Studentin aus der Dominikanischen Republik, eine Kommilitonin aus Algerien und ein Student aus Indien. Letzterer hielt seine Rede in flüssigem Latein. Deutlicher hätte nicht zum Ausdruck kommen können, dass es in einer offenen Gesellschaft, deren Bildungssystem nur dem Leistungsprinzip verpflichtet ist, auch Kinder aus Migrationsfamilien ganz nach oben schaffen können. Auch in Deutschland gibt es inzwischen viele Beispiele für erfolgreiche Bildungsbiografien von Kindern mit Migrationsgeschichte. Unter den besten Abiturienten eines Jahrgangs finden sich regelmäßig Schüler, deren Eltern aus ärmlichen Verhältnissen nach Deutschland eingewandert sind, um hier ihr Glück zu suchen. Ihre Kinder haben es geschafft.
Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat nahezu jeder vierte Deutsche einen Migrationshintergrund, bei Kindern ist es jedes dritte. Wie ist es um die Bildung der Migrantenkinder bestellt? Auskunft gibt der 12. Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, den die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Annette Widmann-Mauz im Dezember 2019 vorstellte. Der Bericht zeigt gegenüber dem letzten Bericht aus dem Jahre 2016 eine positive Entwicklung von Kindern mit Zuwanderungshintergrund hin zu höher qualifizierten Abschlüssen. Sie schaffen häufiger den Mittleren Schulabschluss und das Abitur. Die Quote derer, die nur den Hauptschulabschluss schaffen, hat abgenommen. Dennoch ist die Kluft zwischen Migrantenkindern und Kinder aus deutschen Familien noch immer sehr groß. An den Schulbesuchsquoten kann man es ablesen. An Hauptschulen beträgt der Anteil ausländischer Schüler 20,8 Prozent, der deutscher Schüler nur 6,3 Prozent; am Gymnasium beträgt er 24,7 Prozent gegenüber 49 Prozent bei deutschen Schülern. Der Bericht sieht die Ursachen für das fortbestehende Bildungsgefälle im Zusammenklang dreier „Risikolagen“, von denen viele Kinder aus Einwandererfamilien betroffen sind: Die Eltern haben oft einen geringen Bildungsstand, sind seltener erwerbstätig und verfügen über ein niedrigeres Einkommen. Während nur zwei Prozent der Kinder ohne Migrationshintergrund von allen drei Risiken gleichzeitig betroffen sind, sind es bei Kindern mit Migrationsgeschichte acht Prozent. Diese Risikolagen bedingen einen schlechten Start in die frühkindliche Bildung. Kinder mit fremdländischen Wurzeln besuchen immer noch seltener eine Kindertagesstätte als Kinder der Mehrheitsbevölkerung, wobei der Kita-Besuch mit dem Bildungsgrad der Eltern steigt. Alarmierend ist zudem, dass Kinder aus dem Migrantenmilieu seltener informelle Bildungs- und Fördergelegenheiten wahrnehmen, wie etwa Babyschwimmen, Kindersport oder musikalische Frühförderung. In der Entwicklungspsychologie gilt als gesichert, dass solche Angebote die Entwicklung eines Kindes günstig beeinflussen, weil in der Kleinkindphase das Zusammenspiel von Körper und Geist besonders wichtig ist. Grundschulstudien wie IGLU, TIMSS und IQB-Bildungstrend belegen, dass sich die Benachteiligung von Kindern aus Migrationsfamilien in der Grundschule fortpflanzt. Dort erzielen diese Kinder im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften schlechtere Ergebnisse als Kinder ohne Migrationshintergrund.
Leider differenziert der Bericht der Migrationsbeauftragten nicht nach ethnischen Einwanderer-Gruppen. Deshalb muss man andere Studien zu Rate ziehen. Migrationsforscher attestieren türkischen Schülern den schlechtesten Schulerfolg unter den Migrantengruppen. Die Defizite türkischer Schüler werden oft darauf zurückgeführt, dass viele türkische Einwanderer aus der Unterschicht stammen, in der es keine familiäre Bildungstradition und auch keine positiven Vorbilder gebe. Bei asiatischen, polnischen und russischen Einwanderern sei das anders, weil sie oft der Mittelschicht entstammten. Wenn man, wie es das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 2015 in einer Studie getan hat, den sozialen Status der Eltern herausrechnet, sind die „Kompetenznachteile“ türkischer Schüler immer noch „substantiell“. Andererseits weiß jeder Lehrer, dass Kinder am erfolgreichsten lernen, wenn sie sich wertgeschätzt und angenommen fühlen. Das ist bei türkischen Schülern offensichtlich nicht immer der Fall. Beobachtungen im Unterricht an Berliner Sekundarschulen zeigten, dass Schüler mit türkischen und arabischen Wurzeln bei einem Mathematiktest besser abschnitten, wenn sie vor dem Test von der Lehrkraft positiv motiviert worden sind. Es ist nicht auszuschließen, dass es Lehrkräfte gibt, die nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung verfahren. Sie trauen Schülern mit türkischen Wurzeln weniger zu, was sich bei der Bewertung ihrer Leistungen dann auch tatsächlich einstellt.
Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben. Sie bietet auch Gewähr für eine aktive Teilhabe am kulturellen Leben. In einer modernen Leistungsgesellschaft ist Bildung zudem der wichtigste Rohstoff, Garant für Wachstum und Wohlstand. Wir sollten alles tun, um die Kluft zwischen deutschen Schülern und solchen mit Migrationsgeschichte zu schließen. Für Kinder jeglicher Herkunft gilt, dass sich Intelligenz über Sprache bildet. Muttersprachliche Verbalisierungsstrategien schon im frühesten Kindheitsalter sind deshalb die besten Garanten für schulischen Erfolg. Dies gilt in besonderem Maße für Kinder aus Migrationsfamilien. Wenn dort nur eingeschränkt oder gar nicht Deutsch gesprochen wird, wenn auch das Fernsehen via Satellit nur in der Heimatsprache konsumiert wird, geraten diese Kinder schon im frühen Alter gegenüber ihren deutschen Altersgenossen ins Hintertreffen. Sprachforscher haben festgestellt, dass diese Verbalisierungsrückstände nie mehr ganz aufgeholt werden können. Dies ist auch die Ursache für den deprimierenden Befund des Berichts der Integrationsbeauftragten, dass selbst Ausländerkinder mit Abitur als Erwachsene einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt sind als deutsche Schüler mit Abitur. Sie tragen die Benachteiligung quasi als Handicap durch ihr ganzen Leben.
In allen Bundesländern gibt es inzwischen Sprachstandfeststellungen, mit deren Hilfe man die sprachlichen Defizite von Kindern noch rechtzeitig vor der Einschulung erkennen kann. Getestet werden in der Regel Kinder im Alter zwischen drei und vier Jahren. Das erste Testverfahren wurde in den 1990er Jahren in Berlin entwickelt. Es trägt den schönen Namen „Bärenstark“. Das zu testende Kind wird mit einem Teddybären konfrontiert. Das Kind muss den Bären beschreiben, einzelne Körperteile benennen und mit dem Bären kommunizieren. Die Sätze des Kindes werden Wort für Wort protokolliert. Sprachforscher halten diesen Test für sehr aussagekräftig, weil er zeigt, wie differenziert das Sprachvermögen der Kinder ausgebildet ist. Ein eventueller Förderbedarf lässt sich verlässlich feststellen. Die Krux dieser Tests liegt allerdings darin, dass die Schulbehörden der Bundesländer sich schwer damit tun, die Kinder mit Förderbedarf zu einem Kita-Besuch zu verpflichten. Kulanz gegenüber widerstrebenden Eltern ist fehl am Platze, wenn es um die Zukunft der Kinder geht.
Mit der Sprachförderung in Kita und Grundschule ist es nicht getan. Für Schüler aus Ausländerfamilien müsste man auch im Sekundarbereich eine sprachliche Zusatzförderung anbieten, die den regulären Fachunterricht ergänzt. Das Ziel dieser Förderung müsste sein, dass sich die Schüler dasselbe elaborierte Sprachverständnis aneignen, das Kinder aus deutschen Familien in ihrer frühkindlichen Sozialisation naturwüchsig erwerben. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man sich auf dem Niveau einer Zweitsprache artikulieren kann, wo oft schon 5.000 Wörter für die Alltagskommunikation ausreichen, oder ob man in der Lage ist, literarische Texte oder anspruchsvolle Sachtexte zu verstehen, für die man einen Wortschatz von 20.000 Wörtern benötigt. Schüler, die trotz dieser Fördermaßnahmen keinen Schulabschluss erreichen, sollte man so lange beschulen, bis sie den Hauptschulabschluss schaffen, der ihnen den Weg in einen Lehrberuf ebnet. Dazu müsste die gesetzlich limitierte Dauer der Schulpflicht im Einzelfall verlängert werden können. Was spricht dagegen, für solche Schüler eine spezielle Einrichtung, eine „Schule Plus“, zu schaffen? Dort sollten sie von Lehrern betreut werden, die wegen ihrer starken Persönlichkeit einen Zugang zu diesen Schülern finden. Leidenschaftlichen Lehrern kann es gelingen, mit Sachkompetenz, Empathie und persönlicher Ausstrahlung selbst schwierigste Schüler auf den richtigen Weg zu führen.
Vor dem Hintergrund, dass ein Viertel der 15-jährigen Schüler mit Migrationshintergrund nur über eine eingeschränkte Lesekompetenz verfügt, drängt sich die Frage auf, ob ein Sprachförderpakt nicht sinnvoller wäre als der von der Regierung mit den Ländern verabredete Digitalpakt. Jeder Schule, die einen Ausländeranteil von mehr als 30 Prozent aufweist, sollte ein Sprachlehrer mit DaF-Kompetenz zugewiesen werden, der die Fachlehrer dabei unterstützt, die Sprachschulung der Schüler zur täglichen Pflicht zu machen. Man möchte sich nicht ausmalen, wie Schüler, die analphabetisch unterwegs sind, mit ihren Smartphones und Tablets hantieren. Die ihnen antrainierte Technikaffinität wird ihre sprachlichen Defizite mit Sicherheit nicht beheben können.