Über Menschen, denen man Jugendverfehlungen vorwerfen kann, sollte man nicht ein für alle Mal den Stab brechen. Man muss allerdings von ihnen verlangen, dass sie ihre Taten in Wort und Tat bereuen.
Der Fall der palästinensischen Ärztin Nemi El-Hassan spaltet momentan die öffentliche Meinung. Von „Hosianna“ bis „Kreuziget sie!“ reichen die Pendelausschläge der Meinungen. Ich möchte mich der Sache von der Seite der Pädagogik her nähern. Als Nemi El-Hassan im Jahr 2014 in Berlin an der antisemitischen al-Quds-Demonstration teilnahm und sich auch in islamistischen Kreisen bewegte, war sie Abiturientin, also 19 Jahre alt. Sie hat ihr Abitur in der brandenburgischen Stadt Fürstenwalde abgelegt. Vor der Reifeprüfung kam sie im Unterricht zweimal mit dem Holocaust in Berührung.
Kalte Mechanik der Menschenvernichtung
In Brandenburger Schulen stehen in der 9./10. Klasse die Themen „Völkermord“, „Rassismus“ und „Nationalsozialismus“ auf dem Lehrplan. In der gymnasialen Oberstufe wird diese Thematik dann vertieft. Das Menschheitsverbrechen „Holocaust“ wird ausführlich im Unterricht besprochen. Wie ich aus Erfahrung weiß, verweilen die Geschichtslehrer lange bei diesem Gegenstand, als wollten sie die Schüler für alle Ewigkeit immunisieren, nie mehr zuzulassen, dass Menschen jemals wieder so etwas Grausames angetan wird. In meinem Unterricht zeigte ich den Schülern die Filme „Bei Nacht und Nebel“ und „Schindlers Liste“. Als die Schüler die Bilder von Leichenbergen, die Berge von Schuhen, Brillen und Haaren der Opfer sahen, waren sie zutiefst erschüttert und aufgewühlt, einige Mädchen weinten. Es gab Schüler, die nach diesem Unterrichtserlebnis ihr Leben in neue Bahnen gelenkt haben. Einige zogen im Rahmen von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für ein Jahr in einen israelischen Kibbuz, um durch tätige Mithilfe am Projekt Israel ein wenig von der Schuld der Generation der Großeltern zu tilgen. Andere wurden Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen und führten Touristen und Schulklassen durch das ehemalige Konzentrationslager.
Abgebrühte Reaktion einer Palästinenserin
Wie kaltherzig und mitleidlos muss eine Schülerin sein, wenn sie sich nach dem Holocaust-Erlebnis im Unterricht an einer Demonstration beteiligt, bei der „Juden ins Gas“, „Tod Israel“ und „Heil Hitler“ gerufen wird. Oder anders ausgedrückt: Wie tief muss die Identifikation mit dem palästinensischen Narrativ sein, wonach die Juden die Todfeinde der Araber sind und es nur gerecht wäre, wenn sie aus Palästina vertrieben würden. Als Lehrer weiß ich, dass Jugendliche in politischen und gesellschaftlichen Konflikten häufig mit einem Gesinnungsüberschuss agieren. Für Differenzierung und Ausgewogenheit bleibt dann nur wenig Raum. Es braucht seine Zeit, bis aus einem rebellischen Hausbesetzer schließlich ein braver Mieter, aus einem militanten Greenpeace-Aktivisten ein moderater Naturschützer geworden ist. Wenn in der eigenen Vita dann noch ethnische Konflikte eine Rolle spielen, fällt eine selbstkritische Reflexion umso schwerer. Wenn man einer Flüchtlingsfamilie entstammt und die Eltern, Verwandten und Freunde einem immer einreden, sie verdankten ihr elendes Schicksal „den Juden“, findet Antisemitismus einen fruchtbaren Boden. Doch auch hier sollte man die Hoffnung auf Einsicht nicht gänzlich aufgeben.
Jüdische Schüler werden drangsaliert
In der öffentlichen Debatte über Nemi El-Hassan kam der gesellschaftliche Kontext, in dem sich Judenhass gegenwärtig vollzieht, kaum zur Sprache. Die al-Quds-Demonstration ist nämlich nur das alljährlich sichtbare Skandalon. Die alltägliche Verfolgung der Juden findet weitgehend ohne öffentliche Aufmerksamkeit statt. In staatlichen Schulen werden jüdische Schüler von ihren muslimischen Mitschülern beschimpft, bedroht und drangsaliert. Oft kommt es auch zu Tätlichkeiten. Wie alle deutschen Juden werden auch sie für die Politik Israels gegenüber den Palästinensern verantwortlich gemacht. Seit dem Gaza-Krieg 2014 ist die Vokabel „Kindermörder“ auf dem Pausenhof ein gängiges Schimpfwort für jüdische Schüler. Die Schulen der Jüdischen Gemeinde, in deren Schoß sich verfolgte jüdische Schüler schließlich flüchten, gleichen inzwischen Hochsicherheitseinrichtungen. Sie werden genauso scharf bewacht wie die Schulen in Israel. Die Anti-Defamation-League, die sich dem Kampf gegen den Antisemitismus verpflichtet fühlt, hat in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden, dass 56 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime antisemitische Neigungen hegen. Unter den Deutschen sind es 16 Prozent. Der anhaltende Zuzug von Flüchtlingen aus Nahost verstärkt dieses problematische Reservoir.
Wiedergutmachung durch tätige Reue
Nemi El-Hassan hat in der Öffentlichkeit nicht nur Kritik und Ablehnung erfahren. Es hat auch Sympathiebekundungen gegeben. Zuletzt haben ihr Hunderte Kulturschaffende und Wissenschaftler in einer Solidaritätsadresse beigestanden. Man solle ihr gegenüber Nachsicht walten lassen, so der Tenor, weil sie für die Fehler ihrer Vergangenheit „um Entschuldigung gebeten und ihren Wandel glaubhaft dargelegt“ habe. Nicht so recht passen will zu dieser Lesart der Umstand, dass sie ihre Sozial-Media-Einträge gelöscht hat. Hat sie doch etwas zu verbergen, was die Öffentlichkeit nicht wissen soll? Es gäbe eine Möglichkeit, wie sich Nemi El-Hassan öffentlich voll rehabilitieren könnte. Von der Reformpädagogik kennen wir den Grundsatz, dass man sich mit der Gemeinschaft, gegen deren Gesetze man verstoßen hat, wieder versöhnen kann, indem man sein Fehlverhalten wieder gutmacht. Wiedergutmachung ist besser als Reue, die allzu häufig nur verbal bleibt.
Botschafterin der Verständigung
Nemi El-Hassan könnte ihre Läuterung dadurch unter Beweis stellen, dass sie zusammen mit einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin oder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Berliner Schulklassen über den Nahostkonflikt und über jüdisches Leben in Deutschland aufklärt und mit den Schülern diskutiert. Zielgruppe müssten Klassen sein, in denen ein hoher Anteil von Schülern muslimischer Religionszugehörigkeit anzutreffen ist. In den Berliner Bezirken Mitte, Kreuzberg, Spandau und Neukölln findet man solche Klassen. Den muslimischen Schülern sollte vermittelt werden, dass es einen dauerhaften Frieden in Palästina und ein menschenwürdiges Leben auch für die Palästinenser nur geben kann, wenn sie das Existenzrecht Israels anerkennen und der Gewalt abschwören. Auch die geschichtliche Wahrheit sollte zur Sprache kommen: Die Vertreibung der Palästinenser war die Folge des Krieges, mit dem Ägypten, Syrien, Irak, Jordanien und Libanon den frisch gegründeten Staat Israel im Mai 1948 überzogen hatten. Hätten die Araber damals den ihnen von den Vereinten Nationen angebotenen Staat akzeptiert, gäbe es die von der Politik geforderte Zwei-Staatenlösung seit 73 Jahren. Wenn sich Nemi El-Hassan als Botschafterin des Friedens und der Verständigung bewährt hat, sollte einer Fortsetzung ihrer Karriere beim WDR nichts im Wege stehen.