Sackgasse Berlin

Veröffentlicht in der Tageszeitung DIE WELT vom 25. Sept. 2019

Seit Jahren landen die Schüler der Hauptstadt beim Vergleich der Länder auf dem letzten Platz.  Die Schulverwaltung weigert sich hartnäckig, die Rezepte erfolgreicher Bundesländer zu übernehmen. Eine Abrechnung.

Auswärtige Expertise soll es jetzt richten: Eine Kommission unter Prof. Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die  Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel hat die Arbeit aufgenommen, um die Misere des Berliner Schulsystems zu durchleuchten und auf Abhilfe zu  sinnen. Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) sah sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt gezwungen, weil  sich zu Beginn des neuen Schuljahres die Katastrophenmeldungen über die Berliner Schule häuften.  Aktuelle Schulleistungsdaten verweisen Berlins Schüler wieder einmal auf den letzten Platz.  Im „Bildungsmonitor 2019“ der Neuen Initiative Soziale Markwirtschaft (NISM) erreicht die Hauptstadt bei der Schulqualität nur 10 von möglichen 100 Punkten, der Sieger Sachsen glänzt mit 85 Punkten. Beim „Vera 3“- Vergleichstest, der die Leistungen der Grundschüler misst,  erfüllen in Deutsch  52 Prozent  nicht den durchschnittlichen Standard, in Mathematik sind es 56 Prozent. Von 2015 bis 2017 ist die Anteil der Schüler ohne Abschluss von 9,3 Prozent auf 11,7 Prozent gestiegen. Im bundesdeutschen  Durchschnitt beträgt die Quote nur 6,9 Prozent. Die Bildungsverwaltung musste zu Schulahrbeginn zugeben, dass bis zum Schuljahr 2021/2022  bis zu  9.500 Schulplätze  fehlen. Wegen all dieser schlechten Nachrichten legte der  „Landeselternausschuss Berlin“ der Schulsenatorin indirekt den Rücktritt nahe, weil er ihr  nicht mehr zutraut, Berlins Schulen aus der Misere herauszuführen.  Diese Attacke hat die SPD kalt erwischt, hatte sie doch gerade finanzielle Wohltaten unters Wahlvolk gestreut: kostenlose Kita, Freiticket im Öffentlichen Nahverkehr, freies Essen in der Schule. Diese Spendierfreudigkeit bestätigt wieder einmal, dass für die SPD  Schulpolitik  letztlich Sozialpolitik ist. Sie ist auch eine  Form von Ablasshandel: Geld soll den Unmut der Eltern über die schlechten Schülerleistungen besänftigen. Der Elternverband schreibt sarkastisch,  das durch die Freitickets eingesparte Geld  müsse  locker wieder ausgegeben werden, um Nachhilfe oder  eine  Privatschule zu bezahlen.

Berlin stellt seit 23 Jahren den Schulsenator. Deshalb kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der gegenwärtige Zustand der Berliner Schule ein originäres  sozialdemokratisches Produkt darstellt. Was läuft schief in Berlins Schulen?  In der  Schulpolitik dominiert seit geraumer Zeit das Paradigma der  Egalität. Der Leistungsgedanke ist hingegen in allen Schulformen  in den Hintergrund getreten.  Außerdem weigert sich die  Berliner  Schulverwaltung  beharrlich, die Konzepte aufzugreifen,  die in den erfolgreichen Bildungsländern  Sachsen, Thüringen, Bayern zum Erfolg geführt haben. Ideologisches Wunschdenken bestimmt die Politik, nicht aber pädagogische Plausibilität und didaktische Wirksamkeit.

Baustellen finden sich auf allen Schulstufen. 2005 hatte die Schulverwaltung die Vorschule abgeschafft und vorschulisches Lernen in die Kita verlagert. Für Kinder mit erkennbaren Sprachdefiziten wurde eine 18-monatige Kita-Pflicht eingeführt. Dann geschah es, dass viele Eltern aus dem Migrantenmilieu der Aufforderung zur Sprachstanderhebung ihrer Kinder   nicht nachkamen. In der Folge  wurden viele  Kinder eingeschult, die die deutsche Sprache nur unzureichend beherrschen. Dass sie dann dem Unterricht nicht folgen können, liegt auf der Hand. In der ersten Grundschulklasse sitzt das  Professorenkind, das schon lesen und schreiben kann, neben dem arabischen Kind, das kein Wort Deutsch spricht. Diese großen  Unterschiede in den Lernvoraussetzungen  zwingen die Lehrkräfte zu einem kaum zu bewältigenden Spagat. Wenn dann noch Quer- und Seiteneinsteiger eingesetzt werden, die während ihrer Unterrichtstätigkeit noch in Pädagogik und Didaktik nachqualifiziert werden müssen, ist das Scheitern vieler  Kinder vorprogrammiert.

Im Jahre  2010 wurde die Integrierte Sekundarschule (ISS)  eingeführt. Sie sollte Haupt-, Real- und Gesamtschule ersetzen. Dass man einer neu eingeführten Schulform  Kinderkrankheiten zugestehen  muss, versteht sich von selbst. Neun Jahre nach ihrer Einführung ist die Schonfrist allerdings zu Ende. Die Sekundarschule hat  die in sie gesetzten Erwartungen in keiner Weise  erfüllt. Das liegt vor allem daran, dass das Berliner Schulgesetz den Schulen freie Hand dabei lässt, wie sie mit der großen Heterogenität in den  Klassen umgehen wollen. Diese Form von „Freiheit“ führt offensichtlich nicht zum Erfolg.  Naheliegender wäre es, die Differenzierungsmethode vorzuschreiben, die die besten Erfolge verspricht. Das ist  die äußere  Fachleistungsdifferenzierung, mit der die  Gesamtschule über Jahrzehnte gute Erfahrungen gemacht hat. Nicht nachvollziehbar ist, warum  sich die Schulen im   Fach  Deutsch bis zur 9. Klasse Zeit lassen dürfen, bis sie überhaupt mit der  Fachleistungsdifferenzierung  beginnen. In  Mathematik und Englisch ist differenzierter Unterricht nämlich  schon von Klasse 7 an vorgeschrieben. Leistungsfeindlich ist die Bestimmung, dass  ein Schüler vom niedrigen  G-Kurs in den höheren  ER-Kurs schon mit einer Drei Minus aufsteigen darf. An der früheren Gesamtschule war der Aufstieg nur mit einer Zwei möglich.  Über die Ersteinstufung in die Fachleistungskurse  dürfen sogar die Eltern bestimmen, die  doch in keiner Weise fachkundig sind. Das ganze Differenzierungskonzept ist  ein verkapptes Sozialmodell, das  den Schülern eine angenehm   gepolsterte   Schulzeit vorgaukelt. Das unerfreuliche Ende kommt dann in Klasse 10, wenn der Schulabschluss erworben werden muss:  13 Prozent der Sekundarschüler versagen beim  Mittleren Schulabschluss. Dass die ebenfalls neu gegründete Gemeinschaftsschule mit 15 Prozent Schulversagern noch schlechter abschneidet, vervollständigt das traurige Bild.

Das Berliner Gymnasium leidet vor allem am  Vorrang des Elternwillens beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium. Hinzu kommt noch das Losverfahren, das greift,  wenn die Nachfrage das Angebot an Plätzen übersteigt.  Diese beiden Bestimmungen haben zu einer Heterogenität in den Eingangsklassen geführt, die der gymnasialen Lernkultur nicht gut tut. In einigen Stadtbezirken müssen die Gymnasien  den Unterricht differenzieren, um die Schüler einigermaßen begabungsgerecht unterrichten zu können.  Die hohe Zahl der Schüler, die das Gymnasium nach Ablauf des Probejahrs wieder verlassen müssen (Die Zahl schwankt zwischen 500 und 900 Schülern) zeigt, dass der Elternwille ein fragwürdiges  Aufnahmekriterium darstellt.  Fürsorglich wäre es, diesen Schülern die  Erfahrung des Scheiterns am Gymnasium zu  ersparen.  Deshalb sollte   beim Übergang zum Gymnasium nur noch das Grundschulgutachten zählen. Das Losverfahren sollte abgeschafft werden.

Seit in Berlin  im Jahre 2006 der  Mittlere Schulabschluss (MSA) eingeführt wurde, müssen sich auch Gymnasiasten an dieser  Prüfung beteiligen. Über 98 Prozent bestehen sie. Kann man das  dann  noch  eine  Prüfung nennen? Den Gymnasien hat man die MSA-Prüfung nur verordnet, weil der Senat alle  Schüler – ob klug oder weniger klug – gleich behandelt sehen  möchte. Sinnvoll wäre es, den Gymnasialschülern den  Mittleren Schulabschluss automatisch  zuzusprechen, wenn sie  in   Klasse  11 versetzt werden. Die MSA-Prüfung sollte nur noch  für die Schüler gelten, die die Schule nach der 10. Klasse verlassen, um eine berufliche Ausbildung zu beginnen.  Die durch den Wegfall der  MSA-Prüfung eingesparte Zeit kann gut  für die Einübung von Arbeitstechniken genutzt werden, die in der gymnasialen Oberstufe  benötigt werden.  Solche Übungen können die Einführungsphase  der ehemaligen 11. Jahrgangsstufe teilweise  ersetzen, die durch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht  Schuljahre weggefallen ist.

Durch die Einführung von G 8 hat sich in Berlin die Gymnasialzeit auf 6 Jahre verkürzt (G 6). Das ist im Ländervergleich eine einmalig kurze Verweildauer auf dem Gymnasium. Um die Studierfähigkeit  der Abiturienten sicher zu stellen, wäre es sinnvoll, die  Schulen selbst  bestimmen  zu lassen, ob sie grundständige Züge mit den Klassen 5/6 einrichten. Das Gymnasium ab Klasse 5 ist  auch deshalb angebracht, weil es  der Grundschule in den Klassen 5 und 6 offensichtlich nicht gelingt,  leistungsstarke Schüler, deren Perspektive das Gymnasium ist, hinreichend zu fördern. Die zahlreichen Zuwanderer aus anderen Bundesländern können  ohnehin  nicht verstehen, dass sie ihr Kind in ein nur  sechsjähriges Gymnasium schicken müssen. Sie empfinden das gegenüber den anderen Bundesländern als entscheidenden  Nachteil.

Vor 15 Jahren wurde in ganz Deutschland die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts eingeführt. Die Bilanz dieser Neuerung ist eher ernüchternd.  Bei all dem  Kompetenzgeklingel  ist der Erwerb von Fachwissen ins Hintertreffen geraten. Man kann neues Wissen aber  nur verarbeiten, wenn man über ein solides Wissensgerüst verfügt. Auch mit der Wissensflut im  Internet kann man nur vernünftig umgehen, wenn man zuvor  ein solides Grundwissen erworben hat. Die Berliner Rahmenlehrpläne müssen deshalb dahingehend  geändert  werden, dass sie in allen Fächern unverzichtbare  Wissensbestände ausweisen, die von allen Schülern verbindlich gelernt werden müssen.  Im Fach Deutsch wäre ein Kanon  wertvoller literarischer Werke angebracht. Künftig sollte gelten:  Der Erwerb von Fachwissen ist die wichtigste  Kompetenz.

Es gibt viel zu tun. Wer auch immer das Amt des Schulsenators in den nächsten Jahren ausüben wird  –   er oder sie wird  nicht darum herumkommen, die ideologisch geprägten Strukturen   endlich auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Es kann nicht länger sein, dass ganze Generationen von Kindern  ausbaden müssen, dass sich eine Regierungspartei eine schöne neue Schulwelt malt, die  in der Praxis kläglich versagt. In der Berliner Lokalpresse war der Bericht einer frustrierten Mutter zu lesen, die ihre Tochter an einer Privatschule angemeldet hat, um sie vor weiteren „Bildungs-Laborversuchen“ zu bewahren. Von dem Schriftsteller  Siegfried Lenz stammt das treffende Wort: „Mit seinen Lehrern lebt man zeitlebens.“ – Für Berlins Schüler gilt, dass sie zeitlebens mit den Folgen einer mängelbehafteten schulischen Bildung leben müssen.

 

 

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Eingeordnet unter Der richtige Umgang mit Schülern, Grundschule, Kompetenzen, Lehrplanverfehlungen, Leistungsbereitschaft, Schülerleistungen, Schulformdebatte, Schulgesetz, Stärkung des Gymnasiums, Unterrichtsinhalte

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